Suizid – ein gesellschaftliches Tabu
Suizid kommt aus dem lateinischen und heißt wörtlich übersetzt: sui → seiner, gegen sich und zid → ist ein Wortteil mit der Bedeutung tötend.
Die Möglichkeit des Menschen, sich das Leben zu nehmen, ist eines der größten gesellschaftlichen Tabus. Die Neigung, dieses Thema aus der öffentlichen Diskussion, aber auch aus privaten Gesprächen, z. B. in der Familie, zu verdrängen, hat viele Ursachen.
Eine Rolle spielt die durch christliche Tradition geprägte Einstellung, Selbsttötung sei Sünde, da es einem Menschen nicht zusteht, über Leben und Tod zu entscheiden. Suizidenten erhielten früher kein christliches Begräbnis und wurden mit der Begründung, dass ihr sündhaftes Verhalten zu ewiger Verdammung geführt habe, außerhalb des geweihten Friedhofs bestattet. Bis ins 18. Jahrhundert wurden Menschen, die einen Selbsttötungsversuch überlebten, strafrechtlich verfolgt.
Die Erkenntnisse der Suizidforschung haben diese Einstellung zur → Selbsttötung als Sünde beeinflusst, aber noch nicht überall nachhaltig verändert.
Suizidhandlungen konfrontieren die Umwelt mit einer radikalen Ablehnung eines offenbar als nicht mehr sinnvoll und lebenswert empfundenen Lebens. Menschen werden dazu veranlasst, über ihr Leben, dessen Sinn und dessen Endlichkeit nachzudenken.
Die Tendenz, einem Menschen nach Suizidversuch schnell die Ernsthaftigkeit seines Handelns abzusprechen, deutet auf ausweichenden Umgang mit der Thematik und damit auf Tabuisierung hin. Die suizidale Handlung eines Menschen löst bei den Mitmenschen in seiner direkten Umgebung fast immer größte Betroffenheit aus. Es entwickeln sich Schuldgefühle und Selbstvorwürfe, z. B. als Kind oder Partner völlig versagt zu haben. Selten reagieren Menschen mit Verständnis und akzeptieren suizidales Handeln, z. B. bei unheilbar Kranken, die schwere Schmerzzustände erlitten haben.
Es hat seit der Antike immer wieder philosophische Richtungen gegeben, z.b. die Stoiker, die suizidales Handeln akzeptierten, oder Philosophen wie Nietzsche und Schopenhauer, die dem Menschen ein Recht auf Suizid zugesprochen haben. In jüngster Zeit wurde dieser Aspekt von Suizidalität von Jean Amery wieder in die Diskussion gebracht; er benutzt bewusst den Begriff Freitod und sieht darin die Möglichkeit eines Menschen, selbstbestimmt und in Würde zu sterben. Diese Gedanken dürfen in Überlegungen zur Suizidalität des Menschen einfließen; aber so einseitig zu Ende gebracht, entbinden sie Menschen von jeder Verantwortung für andere.
Suizidalität darf niemals einseitig betrachtet werden, sondern es müssen neben anthropologischen und philosophischen auch ethische, religiöse, psychologische und medizinische Aspekte berücksichtigt werden.
Gefährdete Personengruppen
Die Häufigkeit von Selbsttötungsversuchen und Selbsttötungen nimmt im Alter zu. Besonders betroffen sind ältere Männer und ältere Menschen mit schwachen oder fehlenden sozialen Beziehungen innerhalb und außerhalb der Familie. Drei von vier Suizidenten leiden an einer Depression.
Faktoren, die eine Depression auslösen können, tragen also auch maßgeblich zu den Selbsttötungsabsichten bei. Weiter wurde ein Mangel an Neurotransmittern, besonders an Serotonin und Endorphinen, nachgewiesen.
Grond (1993) geht davon aus, dass ältere Menschen, die einer der folgenden Risikogruppen angehören, besonders suizidgefährdet sind. Dies sind ältere Menschen, die:
Bereits einen Suizidversuch unternommen haben;
Angehöriger eines Suizidenten sind;
an einer Depression leiden;
mit einer Selbsttötung drohen;
nach dem Tod des Partners oder nach der Pensionierung vereinsamt sind (sozialer Tod);
an einer unheilbaren Krankheit leiden;
pflegebedürftig sind;
an einer Suchtmittelabhängigkeit leiden;
eine Krise in einer symbiotischen Beziehung erleben.
Suizid Theorien
Mithilfe von Suizid Theorien wird der Versuch unternommen, Erklärungen für suizidales Handeln zu finden. Die Ansätze dieser Modelle kommen aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen, z. B. Psychologie, Soziologie oder Medizin.
Der Psychiater Ringel hat in den 50er-Jahren mehrere Hundert Personen nach einem Suizidversuch untersucht und Gemeinsamkeiten in der Phase vor dem Suizidversuch gefunden. Diese wurden von ihm als Präsuizidales Syndrom bezeichnet.
Ringel beschreibt drei Symptome, die in unterschiedlichster Form und Stärke auftreten. Bei Menschen mit Suizidabsichten kommt es in vielen Bereichen zu einer Einengung, z. B. bezogen auf ihre persönlichen Möglichkeiten, zu anderen Menschen in Kontakt zu treten. Die Folge ist eine zunehmende Isolierung. Ein Betroffener kann Stimmungen und Gefühle nicht mehr mitteilen und erlebt auch hier eine Einengung, d. h. Gefühle wie Angst, Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht werden immer bestimmender. Gleichzeitig verliert dieser Mensch immer mehr „seine Werte“ wie eine religiöse Bindung, eine Aufgabe in Familie und Beruf, eine Freundschaft.
Ein weiteres Symptom ist die Aggressionshemmung; der Betroffene kann Aggressionen gegen andere, die in Gefühlen wie Wut oder Hass zum Ausdruck kommen, nicht äußern. Die Vorstellung, dass sich diese gehemmte Aggression in Aggression gegen die eigene Person wandeln kann, lehnt an FREUD an.
Betroffen flüchten sich zunehmend in Suizidphantasien, diese werden regelmäßig auch geäußert. Die Gedanken drehen sich um die Vorbereitung des Suizids, Sterben und Tod, die eigene Beerdigung oder die Reaktionen naher Angehöriger. Später drängen sich diese Suizidgedanken immer mehr auf. Sterben und Tod verlieren ihren Schrecken und erscheinen als ein Ausweg, eine Fluchtmöglichkeit aus der unerträglich gewordenen Situation.
Ringel sieht das Auftreten der beschriebenen Symptome und der suizidalen Handlung als eine psychische Erkrankung an. Dieser Ansatz mit der Konsequenz, einen Menschen mit Suizidabsichten als Kranken zu sehen, hat dazu beigetragen, Einstellungen zur Suizidalität zu verändern.
Mit dem Wissen, dass Suizidalität sich immer in einem sehr komplexen Prozess entwickelt, ergeben sich mögliche Hinweise auf die Suizidgefahr eines Menschen aus der Situation, in der er lebt. Kenntnisse über das Präsuizidale Syndrom können dazu beitragen, eine mögliche Suizidgefährdung in ihren Anfängen – und damit früh genug – zu erkennen. Ein Hinweis kann der fortschreitende soziale Rückzug, z. B. aus der Familie oder der Bewohnergemeinschaft, sein. Fast alle Betroffene geben mehr oder weniger gut erkennbare Hinweise, u. a. auch, indem sie über ihre suizidalen Absichten sprechen. Nicht immer geschieht das so direkt, wie mit z. B. mit der Aussage am liebsten würde ich Schluss machen mit allem.
Bei verbalem Suizid hinweisen muss gründlich mit der weitverbreiteten Fehlinformation aufgeräumt werden, dass Menschen, die über Suizid sprechen, ihn nicht begehen. Diese Fehleinschätzung kann schwere Folgen haben. Auch konkrete Handlungen zur Vorbereitung des Suizids, z. B. Sammeln von Medikamenten, Erkunden von Gegebenheiten an Brücken oder Bahngleisen, können beobachtet werden. Zur Vorbereitung gehört auch das Schreiben von Abschiedsbriefen oder Verschenken persönlicher Gegenstände. Sind nach vorheriger Unruhe und Anspannung plötzliche Ruhe und Gelassenheit zu beobachten, kann dies Ausdruck einer endgültigen Entschlossenheit zum Suizid sein.
Werden diese oder ähnliche Hinweise auf Suizidgefahr bemerkt, sollte der Betroffene auf jeden Fall darauf angesprochen werden. Die Tatsache, dass ein anderer Mensch die persönliche Krise erkannt hat und bereit ist, mit dem Betroffenen über seine Suizidabsichten zu sprechen, kann die Situation schon sehr entschärfen.
Selbsttötungsversuche werden regelmäßig durch die Einnahme von Überdosen an Medikamenten unternommen. Ein Suizidversuch kann auch Appellcharakter haben, d. h. er ist die verbliebene Möglichkeit eines Menschen, einen Aufruf an seine Umgebung zu richten. Eine wirkliche Todesabsicht steht in vielen Fällen nicht dahinter. Die Situation ist häufig so gestaltet, dass der Betroffene mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit gefunden wird, oft von dem Menschen, an den der Appell gerichtet ist, z. B. vom Partner nach einer Trennung in der noch gemeinsamen Wohnung.
Männer neigen eher zur Anwendung radikaler Selbsttötungsmethoden, indem sie sich erschießen oder erhängen; die Suizidrate ist ungefähr doppelt so hoch wie bei Frauen.
Ein Suizidversuch kann als der Endpunkt einer schweren Krise bezeichnet werden. Damit ist ein Zeitpunkt erreicht, der eine Entscheidung und damit Veränderung der Situation fordert. Wird eine Lebenskrise nicht erfolgreich bewältigt, können Unsicherheit, Angst, Abhängigkeit und Verletzbarkeit eines Menschen noch verstärkt werden. Von einer Wende zum Guten kann gesprochen werden, wenn es gelingt, eine Lebenskrise zu bewältigen und der Betroffene dadurch eine Stärkung seiner Persönlichkeit erfährt.
Fast alle Menschen in Suizidgefahr oder nach einem Suizidversuch benötigen Hilfen, um ihre Lebenssituation langfristig positiv zu verändern. Diese Hilfsangebote werden als Krisenintervention bezeichnet und sollten sofort nach dem kritischen Ereignis eingeleitet werden. Wenn zu viel Zeit verstreicht, besteht die Gefahr, dass wichtige Aspekte zur erfolgreichen Bewältigung der Lebenskrise nicht bearbeitet werden und die Situation des Betroffenen sich noch verschärft, z. B. durch einen erneuten Suizidversuch.
Die Krisenintervention ist eine kurzzeitige Behandlung, der je nach Bedarf und Einverständnis des Betroffenen eine Langzeitbehandlung, z. B. ambulant durch einen Psychotherapeuten, folgen kann. Eine medikamentöse Behandlung mit Psychopharmaka spielt außer bei Menschen mit psychischen Erkrankungen nur eine untergeordnete Rolle. Bei Angst- und Unruhezuständen kann eine vorübergehende Medikation, z. B. mit Tranquilizer (Beruhigungsmittel) erfolgen.
Prävention
Zahlreiche Faktoren haben prophylaktische Wirkung in Hinsicht auf die Entwicklung von Selbsttötungsabsichten, wenn sie aus der Sicht des Älteren dazu beitragen, dass er sein Leben lebenswert empfindet.
Folgende Verhaltensweisen sollten beachtet werden:
Ein ehrlicher und ernsthafter Umgang mit dem alten Menschen, das Respektieren seiner Persönlichkeit, Würde und Autonomie; Integration in soziale Gruppen wie Familie, Nachbarschaft, Bewohnergemeinschaft, Vereine;
Bewusstes Wahrnehmen und Erhalten des selbstständigen Verhaltens, Vermeiden von Überfürsorge und -versorgung;
Erhaltung und Förderung geistiger Interessen, der Alltagskompetenzen sowie weiterer Fähigkeiten und Neigungen, d. h. auch, bei Erkrankung rehabilitierende Pflege gewährleisten; Stärken des Selbstwertgefühls, indem positiven Eigenschaften, Fähigkeiten und Charakterzügen ehrliche Wertschätzung entgegengebracht wird;
Ehrliches Interesse für die gewordene Persönlichkeit (Biografiearbeit) und Berücksichtigung der biografischen Daten;
Vermitteln von angemessenen Aufgaben und Verantwortung;
Empfehlung und Vermittlung psychotherapeutischer Hilfe bei tiefgreifenden psychologischen Problemen;
Taktvolle und angemessene Wissens über eine gesundheitsfördernde Lebens- und Ernährungsweise; Gestalten einer freundlichen Umgebung und einer angenehmen Atmosphäre;
Ermutigung zu / Unterstützung beim Abschiednehmen und Trauern;
Einflussnahme auf die gesellschaftliche Betrachtung und Bewertung des Alters und des alternden Menschen;
Schaffen einer Solidargemeinschaft, die den einzelnen Menschen – auch den alternden – trägt, das heißt Toleranz und Abbau von Diskriminierung jeglicher Art.