Falsches Mitleid – tödliche Konsequenz
In regelmäßigen Abständen wird die Öffentlichkeit mit Meldungen über Krankentötungen in Heimen und Kliniken erschreckt. Die Täter sind ausgerechnet die Menschen, die eigentlich in einem sozialen Beruf arbeiten. Sechs Ärzte und 25 Pfleger wurden in den letzten Jahren weltweit verurteilt. Als Motiv geben die meisten Mitleid mit dem Patienten an. Die Opfer waren in der Regel hochbetagte und schwer kranke, aber nicht unmittelbar sterbende Menschen. Niemand hatte darum gebeten, „getötet“ zu werden.
Viele der späteren Opfer hatten schon Vorahnungen. Einige berichteten ihren Besuchern von komischen Dingen, die „hier“ passierten, sagten, es kommen die seltsamsten Ereignisse vor. Glaubte ihnen niemand, weil sie vielleicht hochbetagte, verwirrte Menschen waren? Bei einigen war bereits die Entlassung geplant. Wie konnte nur so einfach von Angehörigen hingenommen werden, dass der Pflegling dann so rasch verstarb?
Wenden wir uns nun den Tätern zu und überlegen, was Menschen als Berechtigung sehen, einem hilflosen, anvertrauten, Menschen so etwas anzutun … so eindeutig lässt sich hier kein klares Täterprofil erstellen. Aus Arbeitsbelastung und Arbeitsklima lassen sich keine kausalen Erklärungen für Krankentötungen ableiten. Sie geschahen da, wo die Belastungen als durchschnittlich oder sogar als unterdurchschnittlich eingeschätzt wurden, ebenso wie dort, wo die Verhältnisse eindeutig überfordernd und gestört waren. Mit einigen Ausnahmen wird aber ersichtlich, dass für alle Täter charakteristisch eine überdurchschnittliche Selbstunsicherheit spricht.
Es wird berichtet, dass gleich, ob in den USA, in Deutschland, in den Niederlanden, Norwegen, Japan oder auch in Österreich diesen Menschen eine emotionale Verschlossenheit und Beziehungen rational-distanzierend zu eigen war, oder ins Gegenteil umschlug in vordergründig-fröhlich bis hin zur Flapsigkeit. Die Täter waren innerhalb des Teams Außenseiter, sie wurden selten oder gar nicht zu privaten Feiern eingeladen. Wollten sie so eine Art Macht erreichen? Bemerkenswert sind aber auch die Reaktionen des unmittelbaren beruflichen Umfelds und der jeweiligen Vorgesetzten der Täter, bevor die Taten beweisbar waren.
Weit überwiegend wurden Tötungsmittel eingesetzt, meist Medikamente, die spezifisch für den Gesundheitsbereich sind. Durchgängig ist eine mangelhafte Kontrolle der Medikamentenbestellung und –Vergabe festzustellen. Außerdem ist die Dokumentation sehr nachlässig und wurde auch so vom kompletten Team gehandhabt. Beispielsweise in Wuppertal bestanden zwischen Chefärzten unterschiedlicher Krankenhausabteilungen massive Konflikte, das Pflegepersonal konnte nach Belieben schalten und walten, die zu pflegenden Menschen wurden herumgeschoben und ein Täter sagte aus: „Auf der psychiatrischen Abteilung war das Gefühl entstanden, der Mülleimer der Klinik zu sein.“
Als Wienerin haben mich die brutal vorgenommenen Krankentötungen zwischen 1983 und 1989 in einem städtischen Pflegeheim besonders schockiert. Vier Pflegerinnen töteten in diesem Zeitraum nachweisbar 50 alte Menschen. Ihre Methode nannte sich „Mundpflege“. Die Wiener Pflegerinnen (von denen keine eine staatliche Ausbildung hatte) drückten dem Opfer bei geöffnetem Mund mit einem Spatel den Zungengrund nach unten und unterdrückten so den Schluckreflex.
Dann flößten sie ihren Opfern Wasser ein, dass diese qualvoll ersticken mussten. Die Pflegerinnen sagten sogar aus, dass sich dieser Vorgang teilweise über Stunden erstreckte. Um Ruhe zu haben, forderten sich die Täterinnen noch gegenseitig auf: „Komm mit, vielleicht geht es dann schneller.“ Zu ihrer Entschuldigung gaben sie Arbeitsüberlastung an. Sie waren oft allein im Nachtdienst, die diensthabenden Ärzte schliefen und wenn man sie weckte, gab es großen Ärger.
In der Gerichtsverhandlung legte man private Videos vor, auf denen wilde Partys im Nachtdienst mit den Ärzten zu sehen waren. Wurde geschellt, wollte man sich schnell des lästigen Übels entledigen, um weiter feiern zu können. Wurden Mitbewohner Zeugen solcher Taten, wurde diesen gedroht: „Wenn du nicht ruhig bist, bist du der Nächste.“ Bei allen Tätern kristallisierte sich eine verrohte Sprache und eine drohende Haltung gegenüber den Pflegebedürftigen heraus.
Ein derartiger Sprachstil verweist auf Abwehrmechanismen. Gerade emotional bewegende und belastende Erfahrungen werden häufig mit Ironie geschildert. Die verrohte Tätersprache ist Ausdruck eines Prozesses, der leidende, verwirrte und sterbende Menschen entwertet – und damit auch die eigene Berufstätigkeit, letztlich die Täterpersönlichkeit selbst. Im beruflichen Umfeld zeigte sich, dass die Täter bereits im Vorfeld ihrer Entdeckung von Kollegen mit einschlägigen Spitznamen belegt wurden, zum Beispiel „Todesengel“, „Vollstrecker“ oder „Hexe“.
Derjenige, der solche Namen vergibt, muss doch etwas geahnt haben. In vielen Fällen wird es für unmöglich gehalten, dass so etwas im eigenen Haus geschieht. Selbst wenn Kollegen einen Verdacht gegen die Täter aussprachen, wurde dieser sofort durch ausgeprägte Abwehrhaltung seitens der Pflegedienstleitung, dem Krankenhausträger bis hin zu den Ermittlungsbehörden mit offensichtlichem Desinteresse abgetan. So drohte in den USA eine PDL ihren nachgeordneten Mitarbeitern mit einer Verleumdungsklage, wenn sie nicht aufhören, einen bestimmten Kollegen zu verdächtigen (es stellte sich heraus, dass der Mann 50 Patienten tötete).
Ein Kollege, der bei einer KS in Deutschland ein verdächtiges Verhalte beobachtet hatte, wurde von seinem Vorgesetzten gefragt, ob er bei der KS sexuell nicht ankomme. Insofern spielte auch die Angst der Kollegen als Einzelner, als Denunziant dazustehen, eine gewichtige Rolle. So konnten die Täter jahrelang weiter Menschen töten. War nach der ersten Tat die Hemmschwelle überwunden, stumpfte er mit jeder weiteren Tat ein Stück mehr ab.
Das von den Tätern als Motiv in Anspruch genommene Mitleid hält einer kritischen Überprüfung nicht stand. Meist kannten die Täter ihre Opfer kaum. Krankentötungen verweisen meiner Ansicht nach auf die besondere Unfähigkeit lästige, leidende und sterbende Menschen zu versorgen. Wer das menschliche Leiden bis letztlich zum Tod nicht erträgt, ein so verstandenes Mitleid hat mehr mit Selbstmitleid als mit der menschlichen Anteilnahme am Schicksal des Anderen zu tun. Ein solches Verhalten hat überwiegend damit, zu tun, sich selbst von dem bedrückenden Anblick zu befreien und nicht mit Sterbehilfe, um dem Patienten etwas Gutes zu tun.
Viele der Täter sehen bis heute nicht ein, dass sie getötet haben. So meinte ein amerikanischer Krankenpfleger, der lachend aus dem Zimmer eines soeben verstorbenen Pfleglings kam: „Ich bin einen Weiteren für euch los geworden.“ Eine deutsche Pflegerin, der man bei Dienstübergabe sagte, eine CA-Patientin habe große Schmerzen, meinte darauf hin: „Für die Frau ist es besser, ohne Schmerzen zu sterben. Das mache ich mit links. Das ist für mich ein Häppchen.“
Später spritzte sie der Frau drei Ampullen eines Blutdrucks senkenden Mittels. Die Frau starb darauf an Herz-Kreislauf-Stillstand. Handlungsleitend für derartige Straftaten ist also nicht die mitleidende, einfühlsame und hilfreiche Anteilnahme am Schicksal der kranken Menschen. Im Gegenteil, die Täter haben das eigene Siechtum, das eigene Sterben vor Augen und greifen, indem sie töten, das Spiegelbild der eigenen Zukunft auf.
Die deutsche Gegenwart sieht so aus, dass heute mehr als 80 % der Menschen in Krankenhäusern oder Pflegeheimen sterben. Ebenso viele würden aber viel lieber in Ruhe zu Hause sterben. In der Industriegesellschaft sind der Tod und das Leiden aber aus der Öffentlichkeit verschwunden. Sie werden an Krankenhäuser und Pflegeheime delegiert und man hat keine Erfahrungen mehr damit. Außerdem sollen sich diese „Spezialeinheiten“ damit befassen. Indem wir aber Zuständigkeit für Leiden und Tod systematisch in Krankenhäuser und Pflegeheime verbannen und damit der Tabuisierung und Ausgrenzung Vorschub leisten.
Uns wehren, für den Sozial- und Gesundheitsbereich hinreichende Ressourcen zur Verfügung zu stellen, unterstützen wir Denkweisen, die solchen Straftaten begünstigen. Sie werden auch dadurch begünstigt, dass Leiden, Hoffnungslosigkeit und insbesondere das Sterben in diesen Einrichtungen zur alltäglichen Selbstverständlichkeit werden müssen. Abgesehen von dem Sterbenden selbst ist für das Personal der Tod nichts Besonderes mehr. Mit Sicherheit werden sich Krankentötungen durch genaue und gewissenhafte Kontrollen nicht verhindern lassen, sondern die Motivation für Berufswahl und Berufstätigkeit in dem Wunsch zu helfen und zu heilen.
Gerade hier muss die Vorstellung besonders schwerfallen, dass pflegerisches oder ärztliches Personal schutzbefohlene Menschen tötet. Von entscheidender Bedeutung wird es sein, die Augen zu öffnen und Krankentötungen für möglich zu halten und nicht als unmöglich zu tabuisieren.
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Falsches Mitleid – tödliche Konsequenzen
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