Autor/in: Chris F.

Biografie Porträt

Von Frau Franziska R.

Frau Franziska R. wurde am 22.03.1929 als zweite Tochter des Ehepaares Karl und Emilie R. in *** – *** geboren. Der Vater war evangelisch, die Mutter vor der Heirat katholisch. Während der damaligen Zeit war es generell nicht einfach, wenn Angehörige verschiedener Konfessionen heiraten wollten. Franziskas Eltern umgingen jedoch das Problem; sie wurden evangelisch getraut, nachdem die Mutter mit der Erlaubnis ihrer Eltern zum protestantischen Glauben übergetreten war. Franziska hatte zwei Schwestern, Wilhelma war 5 Jahre älter, Katharina kam 1 Jahr nach ihr zur Welt.

Im Jahre 1932, Franziska war gerade im zarten Alter von 3 Jahren, lernte ihre Mutter einen Obst- und Gemüse-Händler aus ***, verliebte sich in ihn und verließ die Familie. Vater Karl blieb mit den drei kleinen Töchtern allein zurück. Dies war für die kleine Franziska ein großer Verlust in ihrem noch jungen Leben. Sie erinnert sich heute noch genau daran, verstand es aber damals noch nicht, warum die Mutter sie plötzlich verließ.


Vater Karl war Werkmeister bei der Fa. Kalle in ***. Da er ganztags arbeiten musste, um seine kleine Familie über Wasser zu halten, wusste er keinen anderen Ausweg, als seine 3 Mädchen in ein Kinderheim zu geben. Das Heim, in das die Kinder dann kamen, wurde von Diakonissen geführt und lag in der Nähe der Arbeitsstätte des Vaters, sodass er die Töchter oft besuchen oder für gemeinsame Unternehmungen abholen konnte, was er auch regelmäßig tat. Zu ihrer Mutter hat sie in den kommenden Jahren kaum Kontakt gehabt, sie weiß nur, dass aus deren 2. Ehe noch zwei weitere Kinder hervorgegangen sind.

Durch die religiöse Erziehung der Diakonissen kam Franziska mit dem evangelischen Glauben in Kontakt und auch mit der Arbeit der Schwestern, die sie mehr und mehr faszinierte. Sie und ihre Geschwister wurden in den kommenden Jahren ihres Heimaufenthaltes stets gut behandelt und von den Schwestern umsorgt, es wurde mehrmals täglich gebetet und wöchentliche Bibelstunden abgehalten. Sonntags besuchten sie den Gottesdienst und so wuchsen sie sehr behütet im evangelischen Glauben auf. Die drei Mädchen freuten sich immer sehr über die Besuche des Vaters und so ging es ihnen den Umständen entsprechend gut.

Als Franziska 9 Jahre alt war, wurde sie in eine Familienpflege in einem Dorf namens *** im *** gegeben. An dieser Stelle bin ich etwas überrascht, da ich selbst im Nebendorf aufgewachsen bin, nur 2 km entfernt. Wie klein die Welt doch manchmal ist … die Pflegefamilie konnte nur 1 Kind aufnehmen, und so wurde Franziska zum 1. Mal von ihren Geschwistern getrennt, Wilhelma und Kati blieben im Heim. Sie empfand die Trennung als sehr schmerzlich und hatte von Anfang an großes Heimweh nach den Schwestern und dem Vater. Sie musste sich jedoch mit den Gegebenheiten abfinden.

Die Pflegemutter Mina besaß einen kleinen Hof in ***, ihr Mann war bereits verstorben und sie bewirtschaftete den Hof mit ihrem Sohn Georg, der damals ca. 25 Jahre alt war. Franziska musste die Mutter im Haushalt unterstützen. Sie bekam ein eigenes nett eingerichtetes Zimmer, durfte vormittags die Dorfschule besuchen und fühlte sich trotz der Sehnsucht nach ihrer Familie relativ wohl. Auf dem Hof gab es Milchkühe, Schweine und Hühner. Franziska musste nach der Schule und dem Mittagessen die Ställe ausmisten, auf den Feldern helfen, Kartoffeln setzen, Getreide säen, Heu machen und im Herbst die Ernte mit einbringen. Dies wurde damals alles noch von Hand gemacht. Es gab keine Traktoren und Landmaschinen wie heute. Nach getaner Arbeit waren noch die Hausaufgaben zu erledigen. Meistens fiel das Mädchen abends todmüde ins Bett.

Die Ferien verbrachte sie regelmäßig bei ihren Schwestern und den Diakonissen im Heim in *** und unternahm dort mit ihnen und dem Vater viel. Ihre Schwester Wilhelma, die bis zu ihrem 14. Geburtstag im Heim geblieben war, hatte mittlerweile eine Ausbildung zur Pflegehelferin in einem evangelischen Altenheim angefangen. Kati, die jüngere Schwester, blieb weiterhin im Kinderheim.

1938, kurz vor Franziskas 10. Geburtstag, begann der 2. Weltkrieg. Sie erzählt mir, dass sie am Anfang nichts mitbekommen hat; die Erwachsenen unterhielten sich darüber, dass Deutschland im Krieg ist, aber sie konnte sich darunter nichts vorstellen. Ihre Pflegemutter war von Anfang an bei der Partei. Der Hitlergruß war alltäglich und da im Hitlerregime auf Religion kein Wert gelegt wurde, ging Franziska auch nicht in die Kirche, es war nur der Führer angesagt. Im Gegenteil, zwischen 1937 und 1940 traten die Leute in großen Mengen aus der Kirche aus.

Der Kirchenaustritt war stark von „gottgläubigen“ Nationalsozialisten und Diskussionen rund um kirchenkritische Schriften (Bekenntnis: „gottgläubig“ oder „deutsch-gottgläubig“)  getragen. Während des Zweiten Weltkrieges gehörte die große Mehrheit der Abgeordneten des „Großdeutschen Reichstages“ nicht mehr einer Kirche an. Hitler selbst hielt sehr wenig von Religion im Allgemeinen, obwohl er sich anfänglich gerne als Katholik gab. Das Gewissen wurde in den NS-Kulten als „jüdische Erfindung“ bekämpft. Vonseiten der NSDAP wurde pseudo religiöser Ersatz geboten, wozu auch nationalsozialistische Feierstunden gehörten. Statt des Herrgottswinkels gab es bald das blumengeschmückte Bild des „Führers“. Weiterhin gab es Gebete, die den Führer mit dem Erlöser Jesus oder mit Gott gleichsetzten und von ihm das tägliche Brot erbaten.

Führer, mein Führer, von Gott mir gegeben,
beschütz und erhalte noch lange mein Leben!
Du hast Deutschland errettet aus tiefster Not,
dir verdank ich mein täglich Brot,
Führer, mein Führer, mein Glaube, mein Licht,
Führer, mein Führer, verlasse mich nicht!
Gebet aus einem Waisenhaus.

In Todesanzeigen wurde von Gefallenen berichtet, die „im festen Glauben an ihren Führer“ gestorben seien.
Die Rückbindung (last. religio = „Rückbindung“ an etwas Größeres) war hier nicht eine Rückbindung an Gott oder an das Nirwana wie in der Religion, sondern an einen Diktator. Aufgrund solcher Tatsachen versuchte die Pflegemutter alles, um Franziskas Konfirmation zu verhindern. Vater Karl hat sich aber dann durchgesetzt und dafür gesorgt, dass Franziska 1943 konfirmiert werden konnte.

Auf meine Frage, was sie denn vom Krieg eigentlich mitbekommen hätte, bekomme ich folgende Antwort:
„Die schlimmsten Jahre waren für mich die zwischen 1941 und 45. Auf *** fielen Bomben, von denen haben wir in *** nichts mitbekommen, nur davon gehört. Erst zum Ende des Krieges flogen oft Bomber über unser Dorf, meist, wenn wir gerade auf den Feldern waren. Wenn wir von Weitem die Motorengeräusche der Flugzeuge hörten, mussten wir immer rasant rennen und uns in der Scheune oder dem Kornspeicher verstecken.
Mit 14 wurde ich dann konfirmiert und schloss die Volksschule ab.

Meine Schwester Wilhelma schloss zur gleichen Zeit mit 19 Jahren ihre Ausbildung zur Pflegehelferin im Altenheim in *** ab. Kurze Zeit später schlug bei einem Großangriff auf *** ein Volltreffer in das Altenheim ein. Meine Schwester starb und viele andere Leute haben auch nicht überlebt.“ Franziskas Augen werden feucht und auch ich muss schlucken, darauf war ich nicht vorbereitet. So hatte sie wieder einen schrecklichen Verlust in ihrem Leben zu erleiden. Ihre Schwester Wilhelma war nicht mehr da!

Zum Trauern blieb ihr jedoch nicht viel Zeit, nach ihrem Schulabschluss wurde sie als Hauswirtschafterin an eine Familie in Würges bei Bad Camberg vermittelt. Dort stand Frau Müller mit drei Kindern allein, ihr Ehemann war noch im Krieg. Die Familie Müller betrieb eine Gastwirtschaft, Franziska musste den Haushalt machen, kochen und die Kinder versorgen, während Frau Müller sich um die Gäste kümmerte. 1948 ging Franziska auf eigenen Wunsch in das Kinderheim zurück, in dem sie aufgewachsen war und arbeitete dort als Pflegehelferin zusammen mit den Diakonissen und kümmerte sich mit um das Wohl der Kinder. Zu diesem Zeitpunkt entstand in ihr der Wunsch, Diakonisse zu werden und Hilfsbedürftigen und Kranken zu helfen.

Sie meldete sich im Diakonissen-Mutterhaus in *** an und durfte 1950 dort einziehen. Dort blieb sie zunächst für ein Probejahr. Der Tagesablauf war folgendermaßen: 6 Uhr aufstehen, 7 Uhr mit der Arbeit anfangen. Die Schwesternzimmer mussten aufgeräumt und sauber gehalten werden, die Probeschwestern mussten in der Küche helfen und dafür sorgen, dass das Haus in Ordnung blieb. Den Rest des Tages widmeten sie sich dem Studium der Bibel und der Kirchengeschichte. Sie unterstützten die Diakonissen bei ihrer Arbeit und mussten sich so ein Jahr lang bewähren, bevor sie zu Diakonissen eingesegnet werden konnten.

An dieser Stelle möchte ich ein wenig über die Geschichte unserer Diakonissen erzählen, deren Arbeit und Geschichte eng mit unserer Stadt *** und unserer Arbeit im heutigen Georg -Vömel-Haus verbunden ist.
Im Jahre 1989 war *** eine sehr berühmte und glänzende Stadt. Durch ihr wohltuendes Klima, ihre märchenhafte Landschaft und die Heilquellen verbrachten hier u. a. Hoheiten wie König Wilhelm der 1. oder der russische Zar und viele andere berühmte Persönlichkeiten regelmäßig ihre Kuraufenthalte. Der Glanz hatte aber auch eine Kehrseite. Viele Familien der Stadt lebten in Armut, arbeiteten für einen Hungerlohn im Bergbau und förderten Erz, Blei, Zink und Silber.

Viele Arbeiter waren krank, litten an Atemwegserkrankungen und anderen gesundheitlichen Problemen.
Medizinische Versorgung konnten sich die Bürger kaum leisten, es gab keine Krankenversicherung wie heute. Die Arbeit der Diakonissen war bereits in Deutschland bekannt und ihr Ruf drang auch nach ***. Nun suchte man händeringend Hilfe bei den Mutterhäusern in ganz Deutschland, um den Not leidenden Menschen der Stadt zu helfen.

Keines, der Mutterhäuser hatte, jedoch Kapazitäten und so blieb die Suche zunächst erfolglos, bis die Idee aufkam, sich ans Ausland zu wenden. Prompt wurden auf Initiative der Pfarrer Georg Vömel und Rudolf Heydemann aus dem Berner Mutterhaus 2 Diakonissen nach Ems geschickt. Sie gründeten eine Gemeindepflegestation, halfen den Bedürftigen, wo sie nur konnten und merkten schnell, dass die Not sehr groß war. Sie begründeten einen Jungfrauenverein und viele der jungen Mädchen versammelten sich um sie und einige wurden auch zu Diakonissen. Durch den Eintritt der Diakonissen entschloss sich das 1844 gegründete Berner Mutterhaus 1893 auf Betreiben der beiden Pfarrer zum Bau eines Krankenhauses in Ems, das Diakonissen heim. Dieses Krankenhaus stand auf dem heutigen Grundstück des Georg – Vömel – Hauses, genau dort, wo sich heute der Park des Hauses befindet.

1939 wurde aus dem Krankenhaus ein Lazarett und blieb es bis Kriegsende. Es wurde 1976 aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen und da damals der Bedarf eines Alten-  und Pflegeheimes sehr groß war. Begann man noch vor der Schließung des Krankenhauses mit dem Bau des Georg – Vömel – Hauses, welches am 1. Januar 1975 eröffnet wurde, benannt nach dem Mann, der mit der diakonischen Arbeit in *** den Anfang gemacht hatte.

Nach ihrem Probejahr im Mutterhaus wurde Franziska zur Diakonisse eingesegnet, nachdem sie den Eid zur Besitzlosigkeit, Ehelosigkeit und Gehorsam abgelegt hatte. Besitzlosigkeit bedeutet für eine Diakonisse, sämtliche weltlichen materiellen Besitztümer abzulegen. Dafür erhält sie ein lebenslanges Wohnrecht im Mutterhaus- b.z.w. bei späterer Pflegebedürftigkeit im Georg – Vömel – Haus-weiterhin Kleidung, Urlaubsanspruch 4 Wochen pro Jahr + Urlaubsgeld, sowie ein monatliches Taschengeld. 1951 begann Schwester Franziska im Diakonissen heim ihre 3- jährige Ausbildung zur Krankenpflegerin und machte 1953 Examen. Danach legte sie ihr Anerkennungsjahr im Haus Hindenburg in *** ab, wo damals die innere Abteilung untergebracht war.

Die Villa Hindenburg heute

1956 wurde sie nach Oberursel versetzt und machte dort gemeinsam mit einer anderen Diakonisse Gemeindearbeit. Man könnte diese Arbeit mit der heutigen Sozialstationen vergleichen, mit dem Unterschied, dass die Diakonissen Ansprechpartner für alle Probleme waren. Ob kleine Wehwehchen oder chronische Krankheiten, ob private oder finanzielle Probleme, die Diakonissen hatten für jeden ein offenes Ohr und nahmen rege am kirchlichen Leben, Gottesdiensten und Bibelstunden teil. Diese Funktion erfüllte Schwester Franziska, 19 Jahre, lang gemeinsam mit ihrer Kollegin, mit der sie sich auch eine Wohnung teilte, bis die Kollegin in Pension ging und die Gemeindestation aus Mangel an Nachwuchs aufgelöst wurde.

1976 kam Schw. Franziska wieder nach *** und übernahm dort die Stationsleitung in einem Altenheim. Dort blieb sie weitere 19 Jahre bis zu ihrer Pensionierung im Jahre 1996 und zog dann wieder ins Emser Mutterhaus in den Ruhestand. 2004 wurde sie sehr krank und zog am 8.3. des gleichen Jahres in miserablem Zustand auf unserer Pflegestation ein. Sie hatte MRSA und wurde längere Zeit in Quarantäne betreut. Im Mai 2005 musste sie an einem pararektalen Abszess operiert werden und bekam einen Anus Praeter. Danach hat sie sich erstaunlich gut erholt. Heute leidet sie noch an einer chronischen Gastritis und Anämie. Schw. Franziska ist eine unserer nettesten und zufriedensten Bewohner, sie trägt sehr viel Hoffnung in sich und sagt mir, dass es ihr für alles, was sie im Leben durchgemacht hat, heute hervorragend geht.

Sie bekommt oft Besuch, besonders von den anderen Diakonissen, sie unternimmt viel, singt im Chor der Diakonissen und nimmt immer noch regelmäßig am Kirchenleben und den Gottesdiensten teil. Angst vor dem Sterben hat sie nicht. Sie vertraut auf Gott und glaubt fest daran, dass nach dem Tod etwas Gutes kommt.
Das Schicksal von Schw. Franziska berührt mich sehr, sie hat so viel Elend und Not gesehen, hat ihr ganzes Leben der Betreuung von kranken und Not leidenden Menschen gewidmet.

Von der Mutter im Stich gelassen, im Kinderheim aufgewachsen, im Kindesalter zu fremden Menschen gegeben, die geliebte Schwester im Krieg verloren und in jüngster Vergangenheit erst eine schwere Krankheit durchgemacht. Sie hat nie den Mut verloren. Ich habe sie gefragt, ob es nicht schwer für sie war, als Diakonisse alles aufgeben zu müssen und nicht heiraten zu dürfen. Ob sie mal verliebt war? Sie sagt lächelnd: „Nein, verliebt war ich nie und alles aufgeben zu müssen, war nicht schlimm. Nicht heiraten zu dürfen und die Liebe eines Mannes zu spüren, ja, das ist mir manchmal sehr schwergefallen.“

Diesen Beitrag teilen auf...

Twitter Facebook