Krankenpflege im Nationalsozialismus
Warum ist dieses Thema so wichtig?
Die Beteiligung von Schwestern und Pflegern in allen Phasen der „Euthanasie“- Aktionen erfüllt den Tatbestand des Mordes und eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Sie stellt eine strafbare Missachtung der Menschenwürde sowie Missbrauch von Macht und Abhängigkeit dar. Die fehlende Reflexion und Aufarbeitung dieser Zeit im pflegerischen Berufsfeld trugen sicher mit dazu bei, die inferiore Rolle der psychiatrischen Pflege im Nachkriegsdeutschland weiter zu segmentieren.
Aus dieser Vergangenheit ergeben sich bis in die heutige Zeit und in den gegenwärtigen Arbeitsalltag sowohl Verhaltensweisen des blinden Gehorsams und der Anpassung als auch wenige der Verweigerung und des Widerstandes. Dieser geschichtliche Hintergrund prägt unser berufliches Selbstverständnis und die daraus resultierenden Fragen, mit denen wir uns immer wieder neu konfrontieren müssen. Auch aus historischer Sicht ist es also zwingend notwendig, professionelle Wertvorstellungen in der Pflege umzusetzen, Pflegewissenschaft und Pflegeforschung gerade auch historische und ethische voranzutreiben und im Alltag zu integrieren, Konzepte auf pflegewissenschaftlichen Grundlagen zu entwickeln und fachkompetente Kontrollen zu etablieren.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Krankenpflege im Nationalsozialismus
- 1.0.1 Warum ist dieses Thema so wichtig?
- 1.0.2 Anmerkungen zur Bedeutung der Periode des deutschen Nationalsozialismus für die Geschichte der Pflege:
- 1.0.3 Wie weit geht hier die Pflege mit ihrer Anpassung an ein System, wie lange ist sie gehorsam und wann beginnt sie sich zu verweigern.
- 1.0.4 Krankenpflege ab 1933
- 1.0.5 Krankenpflege ab 1933
- 1.0.6 Krankenpflegeausbildung im dritten Reich
- 1.0.7 Pflege im 2. Weltkrieg
- 1.1 Die zwei Mord Phasen
- 1.2 Die Beteiligung von Krankenschwestern und Krankenpflegern an den Verbrechern gegen die Menschlichkeit
- 1.3 Strafverfolgung, Prozesse und Urteile
Anmerkungen zur Bedeutung der Periode des deutschen Nationalsozialismus für die Geschichte der Pflege:
In der Geschichte der Pflege im Nationalsozialismus findet sich sowohl blinder Gehorsam und Anpassung als auch Mut und Verweigerung. Ganz konkret führten der Nationalsozialismus und seine Folgen für die deutsche Pflege zu einem Rückstand in der internationalen Weiterentwicklung der Pflege zur Profession. Was sich auch daran zeigte, dass viele in anderen Ländern bereits erfolgte Fortschritte erst mit langer Verzögerung hier Fuß fassen konnten. Neben diesen Aspekten sind es vorwiegend Fragen des beruflichen Selbstverständnisses, die sich aus einer Auseinandersetzung mit dieser Zeit ergeben. Ganz sicher hat die deutsche Pflege hier ihren eigenen Teil von Mitverantwortung für die Millionen Opfer zu tragen und das Aufrechterhalten der Erinnerung gegen das Vergessen zu setzen. Dies betrifft zum einen die Funktion von Pflege im Gesundheitswesen.
Wie weit geht hier die Pflege mit ihrer Anpassung an ein System, wie lange ist sie gehorsam und wann beginnt sie sich zu verweigern.
Die deutsche Pflege im Nationalsozialismus hat sich zum großen Teil nicht verweigert und war doch überzeugt, weiterhin nur Gutes getan zuhaben und keine Schuld zu tragen. Ist dies wirklich die Funktion von Pflegediensten immer zu tun, was andere sagen und für gut befinden? Zum zweiten hat es mit der Verantwortung zu tun, die Menschen in der konkreten Ausübung ihres Berufes für ihre eigenen Handlungen übernehmen. Bis zu welchem Punkt wird diese Verantwortung abgegeben an andere und wie kommt es, dass Pflege offensichtlich vieles in der Praxis tut, was sie persönlich nicht immer gutheißt, aber mit der „eigentlichen“ Verantwortung von anderen begründet.
Etliche deutsche Krankenschwestern haben ihre Beteiligung an Verbrechen gegen die Menschlichkeit genau mit dieser nicht gegebenen eigenen Verantwortung begründet und wurden freigesprochen. Wie lange also sind Pflegende nur Handlanger und deshalb immer „nicht schuldig“? Zum Dritten betrifft es das Berufsverständnis insgesamt, das dringend reflektiert werden sollte. In dem Sinne, wie weit die schönen Vorstellungen von Eigenverantwortung und Autonomie wirklich Realität sind und wie weit die Pflege wirklich bereit ist, ihre humanitären Ansprüche selbst ernst zu nehmen. Die Pflege im Nationalsozialismus hat gezeigt, wie weit ein Beruf zu gehen, bereit ist im Sinne des Gehorsams und der Anpassung und auch auf dem Wege des Widerstandes und sich Verweigerns.
Wie also sieht es heute konkret aus mit der Umsetzung professioneller Wertvorstellungen. Wie sensibel ist die Pflege für schon kleine Anzeichen von Inhumanität und wie offen sind ihre Augen, Ohren und Herzen, sich mit den eigenen Grenzen und Irrtümern zu befassen.
Die Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten eines Berufes wie der Pflege führt zu grundsätzlichen Fragen des beruflichen Selbstverständnisses, nämlich wann sich das Resultat der Humanität ins Gegenteil verkehrt und wo berufsspezifische Verantwortung beginnt.
Krankenpflege ab 1933
Schon in der Weimarer Republik gab es die klassischen Probleme der Krankenpflege: berufspolitische Zersplitterung und Polarisierung, Vermischen von fachlichen Anforderungen mit Charaktereigenschaften, inhaltliche Diffusität und Unklarheit, strikte Unterordnung unter die Ärzte.
Die Zeit der Weimarer Republik ist einerseits der Zeitpunkt des Beginns aller beruflichen Rechte und Möglichkeiten, andererseits auch eine Zeit der ungebrochenen berufsständischen Tradition. Die deutsche Krankenpflege stand also in sich uneins, unklar und berufspolitisch zersplittert an der Schwelle des Nationalsozialismus.
Krankenpflege ab 1933
Wenn man sich die Gesamtsituation der Pflege in der Zeit von 1933 bis 1945 vor Augen hält. So zeigen sich mehrere parallel verlaufende Stränge, die, auf dem Hintergrund der jahrzehntelangen Abwertung und Missachtung des Krankenpflegeberufs betrachte, die relativ nahtlos vor sich gehende Integration in das System zumindest nachvollziehbar macht. Die Krankenpflege als Frauenberuf wurde enorm aufgewertet, die deutsche Schwester stand gleichrangig neben der deutschen Frau im Dienst am Volk.
Die Politisierung der Krankenpflege verstärkte diese Aufwertung enorm und machte jede einzelne Schwester zum wichtigen Glied eines politischen Systems, die Vereinheitlichung und organisatorische Straffung ermöglichte sowohl Transparenz als auch Kontrolle. Die Taktik, auch die höchsten Positionen im Schwesternwesen mit Schwestern selbst zu beziehen, verstärkte die Aufwertung.
Diese organisatorischen Veränderungen machte die Pflege jedoch nicht tatsächlich eigenständig. Bestimmt wurde die Gesundheitspolitik nach wie vor von Ärzten und die Pflege blieb in allen fachlichen Belangen strikt untergeordnet. Die gewerkschaftlich Organisierten waren vielen schon immer ein Dorn im Auge gewesen und darum war für sie die Neuordnung der Krankenpflege im Nationalsozialismus so positiv, sie entsprach der „neuen Zeit“ und verhieß Weiterentwicklung, so dachten viele. Wie diese Weiterentwicklung letztlich aussah, und wozu Krankenpflege missbraucht werden sollte im nationalsozialistischen System wurde erst viel später deutlich.
Krankenpflegeausbildung im dritten Reich
Die Vorschriften in der Krankenpflegeausbildung lassen folgende Absichten erkennen:
Es sollte der Bedarf zur Sicherung einer ausreichenden Zahl ausgebildeter Pflegekräfte sichergestellt werden. Dazu wurden Ausbildungsstätten an Krankenhäusern eingerichtet, die Festschreibung der Zahl von Ausbildungsplätzen durchgeführt und es war, Pflicht diese Plätze zu besetzen. So stellte man gleichzeitig den geeigneten Schwesternnachwuchs sicher. Politische Zuverlässigkeit und deutsche Abstammung wurden vorausgesetzt (ausgenommen jüdische Schulen).
An allen Krankenpflegeschulen gab es weltanschaulichen Unterricht durch einen Vertreter der NSDAP (Gauschulungsleiter).
Behördlicherseits wurde Einfluss ausgeübt, welche Schwesternschaft Schulträger wurde und Schulleiter konnte nur ein „politisch und sittlich gefestigter“ Arzt werden.
Laut Vorschrift musste der Krankenpflegeausbildung ein amtliches Lehrbuch zugrunde gelegt werden. Somit wurde es möglich nationalsozialistische Ideologien in jede Krankenpflegeausbildung zu transportieren und das gewollte Schwesternbild den Lernschwestern als erlebenswert darzustellen. Im Lehrbuch von 1943 nehmen nationalsozialistische Anschauungen einen breiten Raum ein:
› die Erb- und Rassenpflege, die als dringendes Gebot dargestellt wird, um das deutsche Volk vor dem Aussterben zu bewahren. Die detaillierte Darstellung orientiert sich hauptsächlich an der Leistungsfähigkeit der „Sippe“ und am Bewahren deutscher Kultur.
Der Schwestern fallen im Rahmen dieser Anschauungen neue Aufgabenbereiche zu:
› Volksgesundheitspflege: Gesunderhaltung des deutschen Volkes stand im Mittelpunkt. Das Volk sollte von den Schwestern beraten, beaufsichtigt, erzogen sowie beeinflusst werden. Sie sollten erzieherisch wirken und das nationalsozialistische Denken weitertragen. Deshalb wurden die kirchlichen Gemeindeschwestern nach und nach durch NS-Schwestern ersetzt.
› Krankenhauspflege: Die Pflege kranker Menschen im Krankenhaus blieb weiterhin eine der zentralen Aufgaben der Krankenpflege, wie sie sich seit dem Rückgang der Privatpflege entwickelt hatte. Hier wurden Schwestern aller Verbände und auch in geringem Maße Pfleger eingesetzt, obwohl die Krankenpflege aufgrund der Verwendung der Männer an anderen Orten, zum Beispiel im Krieg, überall als Frauenberuf bezeichnet wurde.
› Die krankenpflegerische Versorgung des Parteiapparates:
Diese Aufgabenbereiche wurden ausschließlich von NS-Schwestern wahrgenommen. Männer im Sanitätsdienst oder in anderen Parteiabteilungen, wie Polizei oder SS, konnten relativ leicht die Anerkennung als Krankenpfleger erhalten. Schwestern waren eingesetzt im BDM, in der Hitlerjugend, in den Lebenswohnheimen, in der Kinderlandverschickung, in den Lazaretten der Waffen-SS, in Mutter-und-Kind-Heimen, in Lazaretten, Konzentrationslagern und Arbeitslagern.
› Kriegskrankenpflege: Für den Kriegsfall wurde viel Pflegepersonal benötigt. Die bestehende Autonomie des DRK wurde deshalb geduldet. Durch die Ausweitung des Krieges 1942 wurden mehr Schwestern benötigt und so wurden „germanisch-freiwillige“ Schwesternhelferinnen und „Mischlinge zweiten Grades“ wieder zur Krankenpflege zugelassen.
› Krankenpflege in den eroberten Gebieten: Nach der Eroberung und Besetzung Osteuropas wurden dort Krankenschwestern im Erziehungs- und Pflegedienst eingesetzt. Sie sollten deutsches und nationalsozialistisches Gedankengut in diese Gebiete tragen und die gesundheitliche Versorgung und Beratung im Sinne der Eroberer sicherstellen.
› Beteiligung an der „Euthanasie“: Die Beteiligung an der „Euthanasie“ und an den Menschenversuchen ist wohl das dunkelste Kapitel der deutschen Krankenpflege. Schwestern und Pfleger waren sowohl während der Vergasungsaktionen als Pflegepersonal in den Heilanstalten als auch in der Phase der „wilden“ Euthanasie am 1941 eingesetzt. Besonders in der letztgenannten Phase war das Pflegepersonal oftmals allein tätig auf Anordnung der Ärzte. Getötet wurde durch Nahrungsentzug, Spritzen (Luft oder entsprechende Medikamente) oder orale Gaben von Medikamenten (s. „Mit Tränen in den Augen“ …).
Da sie im öffentlichen Gesundheitsdienst und als Gemeindeschwester viel beobachtet, hat sie auch sogenannte Meldepflichten zu erfüllen.
Traditionelle Schwesterneigenschaften wie Sorgfalt, Selbstüberwindung, Pflichttreue werden von ihr erwartet. Ihre hierarchische Position nimmt sie wie bereits im 19. Jahrhundert hinter Arzt und Vorgesetzten ein.
In Erb- und Rassenpflege wird die Lernschwester zur Übererfüllung der gesetzlichen Regelungen angehalten. Es wird an sie als künftige Mutter und künftige Gemeindeschwester appelliert.
Die NS-Schwesternschulen lassen sich somit als Vorreiter einer Krankenpflegeausbildung im NS-Geiste darstellen. In ihnen wurden Konzepte entwickelt, um sie später auf andere Krankenpflegeschulen zu übertragen.
Die aus den NS-Schulen hervorgehenden Krankenschwestern sollten nationalsozialistische Ideologien haben, im Dienst der „großen politischen Armee des Führers“.
Diese Ziele wurden zu erreichen, versucht durch:
› die strenge Auswahl der Bewerberinnen. Sie mussten sich uneingeschränkt zum Nationalsozialismus bekennen, eine Vorschule haben und aus dem BDM herauskommen.
› das große Gewicht weltanschaulicher Schulung. Dadurch sollte die Tätigkeit politisch zu denken geweckt werden. Die Schulung sollte zur Verinnerlichung nationalsozialistische Begriffe wie „Rasse“ oder „Raum“ beitragen und ein nationalsozialistisches Geschichtsbild vermitteln, das aufbaut auf der „Sippe im germanisch-völkischen Staat“.
› permanente Verknüpfung der weltanschaulich-politischen mit der fachlichen Schulung, hauptsächlich Erb- und Rassenpflege und der Stellung der NS-Schwester innerhalb der Frauenarbeit der NSV.
› die Einrichtung der NS-Schwesternschulen als Jungschwesternheim, in denen angefangen von täglichem Frühsport über den Unterricht bis in die Freizeit alles gemeinsam mit einer Jungschwesternführerin durchgeführt wurde.
Damit sollten Gemeinschaftsgeist und Kameradschaft gefördert werden.
Pflege im 2. Weltkrieg
Die Pflege im 2. Weltkrieg lag in der Hand des Deutschen Roten Kreuzes, das sich zum willfährigen Handlanger der Wehrmacht und damit des NS-Staates gemacht hatte.
Um den vielfältigen Aufgaben gerecht zu werden, war es unerlässlich, auch ideologisch eine Übereinstimmung mit dem Staat zu erwirken. Deshalb wurden die wichtigsten Funktionäre Stellen, mithilfe von DRK Funktionären, umbesetzt. Diese agierten nun bereitwillig im Sinne des NS-Staates.
Durch die allgemeine Aufwertung der Frauenberufsfähigkeit und aus drängender Notwendigkeit, denn Männer wurden in den Krieg geschickt und ihre Arbeitsplätze mussten ersetzt werden, gelang es, eine große Zahl von Frauen für den Schwesternberuf zu gewinnen. Dank ideologischer Vorbereitungen konnten sie den Tag ihrer Einberufung kaum abwarten und wurden dann mit der grausamen Realität unmenschlicher Arbeits- und Lebensbedingungen an nahezu allen Kriegsschauplätzen konfrontiert.
Für ihren Einsatz wurden sie oft wie „echte Männer“ mit ungewöhnlichen Ehrungen wie das Eiserne Kreuz bedacht. Neben ihre enormen Leistungen im humanitären Bereich haben sie mit dem DRK dazu beigetragen, die Kriegsmaschinerie am Leben zu erhalten, häufig unter Einsatz von Leben und Gesundheit.
Die zwei Mord Phasen
1. Mordphase: Patienten wurden per Meldebogen nach Berlin gemeldet. Von dort aus ging dieser an drei unterschiedliche ärztliche Gutachter, die ankreuzten, wer für die Tötung oder als fraglich eingestuft wurde. Die Patienten wurden mit Bussen abgeholt, mit ihrem gesamten Hab und Gut. Sie wurden zuerst entkleidet, fotografiert, einem Arzt vorgeführt und dann in die Gaskammern geführt. Dies erfolgte meist unmittelbar nach der Ankunft. Die Angehörigen wurden durch „Trostbriefe“ informiert, in denen falsche Todesursachen angegeben wurden.
„Vom 21. Januar 1941 an begleitete ich zehn Krankentransporte aus den verschiedensten Anstalten nach Hadamar. Wir fuhren u. a. nach Weilmünster, Scheuern bei Katzenelnbogen, Eichberg, in die Gegend von Weinsberg und nach Kalkhausen bei Köln. Wir fuhren i. d. R. mit drei Omnibussen, die anfangs von der Reichspost gestellt waren; später fuhren wir Busse, die einen grauen Anstrich hatten und aus Berlin gekommen sein müssen.
Alle diese Busse hatten nur Sitzplätze und keine Liegeplätze. Sie enthielten auch keine Toilette. Wie viele Sitzplätze die einzelnen Busse hatten, weiß ich heute nicht mehr genau, ein Transport, bestehend aus drei Bussen, umfasste aber ungefähr 60 bis 70 Patienten; es können auch mal 80 gewesen sein.
Auf unseren Fahrten machten wir keine Pausen, damit die Kranken austreten konnten. Die Fahrten dauerten nie allzu lange. Meine weiteste Fahrt war der Weinsberger Transport. Auch er wurde ohne eine Pause durchgeführt. Die Kranken hatten in der Abgabeanstalt zu essen bekommen, ich nehme das jedenfalls an. Reiseproviant hatten sie nicht mit. In jedem Bus saßen von uns ein Pfleger und eine Schwester. Uns voran fuhr jeweils der Transportleiter in einem Pkw. (…)
Als wir zu den Abgabeanstalten kamen, waren die Kranken bereits reisefertig. Das Personal der Abgabeanstalten geleitete die Kranken bis an den Bus heran. Dort übernahmen wir die Patienten. Diejenigen, die nicht gehen konnten, wurden von uns hineingehoben. Die anderen Patienten stiegen selbst ein. In Hadamar angekommen, kamen die Kranken in einen großen Saal, in dem Bänke mit Decken standen, dann kamen die Patienten gruppenweise in den Auskleideraum. Wir waren dabei. Im Auskleideraum kam dann noch das daheim gebliebene Personal dazu. Wir halfen denjenigen Kranken beim Ausziehen, die dazu nicht in der Lage waren.
Im Auskleideraum saß auch der Büroleiter, der anfangs Netscher war und später Bünger war. Der Büroleiter überprüfte die Personalien der Kranken. Eine ihm zur Seite stehende Schwester verabreichte alsdann jedem Kranken einen Stempel auf den Rücken. Der Stempel bestand aus einer Zahl, die auch in die mitgebrachten und ihm, dem Büroleiter, vorliegenden Krankenakten gedrückt wurde. Außerdem wurde ein Hängeabschnitt abgestempelt, der für das Kleiderbündel bestimmt war. In dem Auskleideraum saß noch eine Dame vom Büro, die Wertsachen von den Patienten annahm.
Dann wurden die Patienten in das benachbarte Arztzimmer geführt, und zwar einzeln. Sie wurden an der Tür des Arztzimmers von anderen Pflegern oder Schwestern (je nachdem, ob es ein männlicher oder weiblicher Patient war) in Empfang genommen. Was sich im Arztzimmer abspielte weiß ich nicht, ich habe es nicht gesehen, ich habe das Arztzimmer nicht betreten. (…)
Die anderen kamen aus dem Fotoraum heraus und sammelten sich in einem anderen großen Raum. Die Kranken hatten einen Mantel umgehängt bekommen und trugen Schlappen. Die Kranken wurden dann zusammen in den Keller geführt. Sie kamen dort in den sogenannten Vorraum. Bis zum Vorraum geleitete ich die Kranken. Ich ging dann wieder rauf und kümmerte mich um die Kleider der Kranken, die ja geordnet werden mussten. In der Zwischenzeit wurden die Kranken unten in die Gaskammer geführt, und zwar von anderem Personal. Wer das war, weiß ich nicht. Die Kranken wurden dann vergast. Wer den Gashahn bediente, weiß ich auch nicht.“ (Aussage des Krankenpflegers Benedikt H., 1966)
Eine Ursberger Schwester sagt im April 1946 über die Situation kurz vor dem Abtransport folgendes aus: „Manche haben sich hingehängt an die Schwester, die Schleier abgerissen. Das war furchtbar. Wenn man sich auch noch so beherrscht hat. Die haben direkt geahnt und gemerkt, was los ist. Wir haben ihnen die Sakramente geben lassen. Es war fürchterlich, unbeschreiblich … bei den Mädchen war es ganz arg.
Die fühlten instinktiv, dass ihnen nichts Gutes bevorstand. Die haben direkt geschrien und geweint. Die Pflegerinnen und Ärzte hatten selbst geweint, ob der Szene des Abschieds. (…) Das war etwas Herzzerreißendes. Die meisten hatten es wenn auch nicht gewusst, doch geahnt, was da kommen könnte. Schon der gewalttätige Abschied von der Anstalt, wo sie doch daheim waren.
Der Albert B. ist in die Knie gesunken. Den haben wir direkt aufheben müssen … die meisten haben geweint. Der Albert hat geschrien. Der kleine fünfzehnjährige St. hat von dem Moment an keinen Bissen mehr gegessen, er war leichenblass. Der hat kein Wort mehr gesprochen, einen nicht mehr angeschaut.“
„Über die Grauenhaftigkeit … brauche ich nur das zu sagen, dass sich die einzelnen Patienten in ihrer Verzweiflung an mich klammerten, sodass sie mir förmlich vom Leibe weggerissen werden mussten, wobei auch meine Kleider zerrissen. Eine ältere Patientin klammerte sich in ihrer Todesangst schreiend an die Dachsparren auf dem Speicher und musste von fünf Leuten heruntergeholt und in die Wagen gebracht werden.
Als Antwort auf meine vergebliche Bitte, die Patientin … Freizugeben, sagte mir der Transportführer, die vorgeschriebene Zahl müsse erreicht werden und wenn Fräulein … unbedingt dableiben solle, dann müsse ich halt an ihrer Stelle mitgehen. Das Seltsame bei alledem war, dass unsere Pfleglinge von der sogenannten Euthanasie viel mehr wussten als wir selbst.“
2. Mordphase: In der zweiten Mordphase wurden die Patienten während der Visite dazu erklärt, getötet zu werden. Die Oberschwester, oder Pfleger notierte die Namen, danach wurden die Patienten in eigens dafür errichtete Isolierzimmer verlegt. Der Tod der Patienten erfolgte durch Medikamente (Schlafmittel in Überdosis, Injektionen mit Morphium-Scopalmin, Luftspritzen, die zur Embolie führten). Parallel dazu lief der Mord durch Unterernährung und Nahrungsentzug und betraf sogar größere Anzahl an Tötungen. Die Leichen wurden anfangs von Pflegepersonal fortgeschafft, später eine Gruppe aus geisteskranker, arbeitsfähigen Männern zusammengestellt.
Schwester Luise E., die Hauptangeklagte des späteren Obrawalde-Prozesses, schilderte den Beginn der Tötungen folgendermaßen: „Ich kann mich ausgezeichnet noch an den ersten Fall erinnern. Bald nachdem ich Abteilungspflegerin geworden war, hielt Frau Dr. Wernicke eine Visite. In dem Krankensaal befanden sich etwa 12 Betten mit Patientinnen. In einem Bett lag eine Frau mittleren Alters, also ca. 30 bis 40 Jahre alt, die sehr unruhig war.
Es handelte sich um einen Schizophrene. Dr. Wernicke stand am Bett der Patientin und betrachtete sie. Dann sagte sie zu mir: „Geben sie dieser Patientin 4 bis 5 Gramm Veronal.“ Dann schaute sie sich noch die anderen Patientinnen an und ging. Ich war überzeugt, dass ich der Patientin das Veronal nur geben sollte, um sie ruhigzustellen.
Im Giftschrank der Abteilung war die entsprechende Menge Veronal vorhanden. Ich entnahm das Veronal aus dem Schrank und gab der Patientin zwei Dosen 0,5 Gramm. Da die Patientin nach dieser Menge ruhig blieb, verabreichte ich ihr nicht die gesamte angeordnete Dosis. Am folgenden Tage berichtete ich bei der Visite Dr. Wernicke, dass ich nicht die gesamte Dosis verabreicht habe, weil die Patientin mit den Teilgaben ruhig gestellt war. Darauf schrie mich Dr. Wernicke an, ich hätte das zu verabreichen, was vom Arzt angeordnet werde.
Auf meinen Einwand, die Patientin sei doch durch die geringere Menge ruhig gestellt, ging sie nicht ein. Weitere Fragen stellte ich nicht mehr. Auf die Frage, was ich mir hierzu für Gedanken gemacht habe, muss ich sagen, dass ich mir in diesem Augenblick klar darüber geworden bin, was die Ärztin Dr. Wernicke mit der hohen Dosis Veronal bezwecken wollte.“
Die Beteiligung von Krankenschwestern und Krankenpflegern an den Verbrechern gegen die Menschlichkeit
„Wenn ich aufgefordert werde, den Vorgang des Gebens des Medikamentes genau zu schildern, so muss ich dazu sagen, dass diese Schilderung deswegen nicht einfach ist, weil es sich jedes Mal anders abspielte. Die Patienten verhielten sich dabei alle verschieden. Je nach dem geistigen Zustand des Patienten war unser Vorgehen unterschiedlich. Der eine Patient beispielsweise konnte es noch verstehen, dass er ein Medikament nehmen sollte.
Dabei waren sogar einige, die gierig auf ein Medikament warteten, also gewissermaßen süchtig waren und somit eine Befriedigung ihrer Sucht erhofften…. Andere Patienten waren nicht in der Lage oder wollten nicht trinken. Ihnen musste das Mittel mit Löffeln eingegeben werden. Im Allgemeinen ging es so vor sich, dass die Abteilungspflegerin oder ich die Patienten aufrichteten und in den Arm nahmen. Dabei wurde ihnen gut zugeredet, solange es möglich war.“ (Schwester Luise E.)
Fest steht, dass das Pflegepersonal ein nicht unwichtiger Bestandteil der Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten gewesen ist. Fest steht auch, dass die beteiligten Personen sich dennoch der Illusion hingaben, ihrem humanitären Berufsethos treu geblieben zu sein. An dieser Überzeugung ändern wahrscheinlich auch die Schuldgefühle nichts, die viele der Krankenschwestern und -Pfleger in ihren Vernehmungen geäußert haben und die offensichtlich auch bei einer in Obrawalde angeklagten Krankenschwester sogar zum Selbstmord geführt haben.
Erschwerend aus heutiger Sicht ist vorrangig die absolut verinnerlichte Gehorsamspflicht und das Vertrauen gegenüber den Ärzten und „Denen-Da-Oben“, dass die es schon richtig machen oder zumindest dass es keine Möglichkeit des Ungehorsams gibt. Ein Pfeiler des berufsethischen Rahmens der Pflege war seit ihrer Neukonstruktion im 19. Jahrhundert die strikte Unterordnung unter die Allmacht der Ärzte. Wie tragfähig dieser Pfeiler sein sollte, hat sich in der Zeit des Nationalsozialismus erwiesen.
Das Abgeben der individuellen Verantwortung für eigenes Handeln an eine übergeordnete Instanz ermöglichte damit einerseits das konkrete Durchführen von moralisch eigentlich zu verurteilenden Taten und erlaubte andererseits ein Aufrechterhalten des Gefühls von Unschuld oder Nicht-Beteiligung. Die Perfektionierung der bürokratischen und arbeitsteiligen Abwicklung des gesamten Vernichtungsprogramms der Nationalsozialisten bot zudem jedem Einzelnen, der jeweils nur in einem Teilberuf tätig wurde, die Möglichkeit, Gesamtzusammenhänge nicht wahrzunehmen.
So war es offensichtlich möglich, dass Pflegepersonal Transporte von Kranken begleitete, von denen sie nicht wussten, woher sie kamen, noch wohin sie gingen. Geschweige denn, mit welchem Ziel sie durchgeführt wurden, zumindest bot die arbeitsteilige Organisation diese Möglichkeit der Sichtweise für die Beteiligten an und wurde von vielen auch so angenommen. Für das Pflegepersonal in den Anstalten der „wilden Euthanasie“ war diese Arbeitsteilung am stärksten durchbrochen, sie kannten die Kranken meistens länger, pflegten sie bereits vor der Ermordung und sie wussten, was die ärztlichen Anordnungen bedeuteten. Sie konnten nur mit der Gehorsamspflicht und dem Vertrauen in Staat und Ärzte argumentieren und ihre untergeordnete Rolle der Pflege betonen.
Nicht zu unterschätzen ist sicher auch die spezifische Situation der psychiatrischen Pflege, die noch stärker der sozialen Diskriminierung ausgesetzt war. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Pflegenden, die mangelhafte Ausbildungssituation und die Abwertung der Tätigkeit eines Irrewärters als etwas, zu dem man immer noch gut genug war, wenn sonst nichts anders mehr ging.
Diese Faktoren führten sich auch zu einer negativen Auslese des Personals. Viele arbeiteten in der Psychiatrie, weil es ihnen das Gefühl gab, sich den Ärmsten der Armen durch hingebungsvolle Pflege zu opfern. Diese Grundhaltung wurde auch nicht aufgegeben als sich die Tätigkeiten grundlegend änderten. Die Täterinnen fühlten sich jetzt als Opfer, da sie doch ihr ganzes Leben nur Gutes tun wollten und nun dafür auch noch bestraft werden sollten. Was jeweils das „Gute“ war, haben ihnen die Vorgesetzten mitgeteilt.
Sicher war die Pflege im Nationalsozialismus kein Entscheidungsträger, doch sollte die untergeordnete Position nicht als Legitimation dafür dienen, nicht anders gehandelt zu haben. Auch die heutige NS-Forschung nimmt die Rolle der Pflege oftmals als einfach gegeben in und sieht Selbstständigkeit oder Eigenverantwortung in diesem Beruf nicht als selbstverständlich an.
Strafverfolgung, Prozesse und Urteile
Es bestehen nur Auszüge von Prozessen, die nach 1945 stattfanden. Im ersten Hadamar-Prozess wurden Mitarbeiter von einem amerikanischen Militärgericht für die Ermordung von polnischen und russischen Staatsangehörigen zum Tode oder zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt.
1946 wurden die Oberärztin Hilde Wernicke und die Pflegerin Helene Wieczorek, im Obrawalde Prozess, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Zur selben Zeit wurden in Schwerin drei Stationspfleger und eine Schwester zum Tode verurteilt.
1948 kamen sechs weitere Pflegerinnen und Pfleger hinzu und diese wurden zu Gefängnisstrafen zwischen drei und vier Jahren verurteilt.
Das Gericht befand diese milden Strafen, da „für das ganze Pflegepersonal ein eigener Täter Wille nicht anzunehmen ist.“
1965 fand der zweite Obrawalde Prozess, für das Personal, das in der Anstalt Meseritz-Obrawalde beteiligt war, statt. Das Verfahren erstreckte sich über 14 Schwestern. Alle wurden freigesprochen.
Auszüge aus dem Gerichtsprozess begründen den Freispruch unter anderem dadurch, dass sich die Angeklagten über den Grund der Tötung keine Gedanken mehr gemacht hätten, da die Frage, ob Geisteskranke überhaupt getötet werden dürfen, völlig in den Hintergrund getreten ist. Eine mangelnde Information und stetige Anordnungen der Ärzte brachten das Pflegepersonal zu der Überlegung, dass es für die Schwerstbehinderten eine Erlösung sei, sie zu töten.
Dieser Prozess erregte großes Aufsehen in der Bevölkerung. Zeitungen schrieben: „Die Freisprüche mussten zwangsläufig so ergehen, solange die Hauptverantwortlichen für die Verbrechen nicht vor Gericht gestellt würden.“
Man sollte die „milden“ Urteile, die für das Pflegepersonal ausgesprochen wurden, auch in Beziehung zu den NS-Verbrechen, der damaligen Zeit, sehen. Die Strafverfolgung und Urteile gegen Juristen, Ärzte und andere vervollständigen den Gesamtkomplex.
Wenn, wie in den NS-Prozessen geschehen, diese Unterordnung, die Ergebnisse eines langen Disziplinierungsprozesses und eigentlich gegen die Interessen der Pflegenden gerichtet war. Sogar als Erklärung und Entschuldung für die aktive Beteiligung am Mord von hilflosen Patienten möglich ist, dann ist es wirklich höchste Zeit, Strukturen grundlegend zu verändern und den Realitäten anzupassen.
Weitere Quellen zur Krankenpflege im Nationalsozialismus
Krankenpflege im Nationalsozialismus
Krankenpflege im Nationalsozialismus 2