Die bio-psycho-soziale Einheit
Dieses Modell möchte ich an Gerhard R. vorstellen.
Wechselwirkung zwischen drei verschiedenen Komponenten:
Damit Sie sich ein genaueres Bild über die Person machen können, möchte ich sie Ihnen gerne etwas genauer vorstellen.
Gerhard R. ist am 25.03.1941 in einem kleinen Dorf, Großkunzendorf (Kreis Freiwaldau, Sudetenland)geboren. Nach dem 2. Weltkrieg haben es die Tschechen besetzt und es gehört heute zur Tschechoslowakei.
Gerhard R. ist der einzige Sohn von Hildegard (geb. G.) und Rudolf R. Er war damals ein kleiner Junge von 4 Jahren, als der 2. Weltkrieg endete (1945). Somit kann er sich nur sehr vage an Einzelheiten erinnern.
Sein Opa und seine Oma hatten ein Haus in Großkunzendorf.
Inhaltsverzeichnis
1945 wurde die Kleinfamilie aus ihrem Heimatdorf vertrieben. Seine Mutter hat ihm oft davon erzählt, wie sie in Viehwagons vertrieben wurden, wussten nicht, wohin es mit ihnen geht. Es war eine Flucht ins Ungewisse. Wohin wurde sie es verschlagen?
Am 9. November 1946 kam die Kleinfamilie in Raibach (Stadt Schwäbisch Hall), völlig erschöpft und am Ende an. Gerhard und seine Eltern wurden an ein Gasthaus zugeteilt, wo sie erst einmal wohnen und schlafen konnten. Seine Eltern arbeiteten dort auch, die Wirtsleute hatten Landwirtschaft und Kühe.
Mit der Zeit fühlten sie sich dort wohl. Sie freundeten sich mit der Wirtsfamilie an und durften dort gegen Arbeit wohnen bleiben. Eine Freundschaft entstand.
Seine Mutter erzählte ihm später einmal, dass es sehr hart für sie am Anfang gewesen war. In der Ortschaft wurden sie nicht akzeptiert, weil sie Geflüchtete waren. Geflüchtete waren nicht gerne gesehen.
Seine Eltern sind in Raibach geblieben, nach ca. 10 Jahren bekamen sie von der Stadt Schwäbisch Hall einen Bauplatz gegenüber der Wirtschaft zu kaufen. Ihren Traum vom eigenen Zuhause konnten sie sich nun erfüllen. Sein Vater war von Beruf Schreiner, somit konnte er vieles allein machen.
Gerhard besuchte die Schule in dem Nahe gelegenen Dorf Bibersfeld. Jeden Tag lief er die 3 km zu Fuß in die Schule. Er hat eine Ausbildung zum Werkzeugmacher, später dann zum Maschinenbauingenieur erlernt.
Mit 17 Jahren verlor Gerhard R. seinen Vater. Er verstarb angeblich an Gallensteinen, als man genauer nachfragte war es Krebs. Später werde ich darauf noch genauer eingehen. Gerhard lernte mit 27 Jahren auf Montage am Bodensee die 18-jährige Margarethe kennen und lieben, die er 4 Jahre später dann zu seiner Frau nahm. 1 Jahr später wurde die erste Tochter, Sonja Ritsche geboren. Vier Jahre später hatte Margarethe ihre 2. Geburt und Lena Ritsche durfte das Licht der Welt erblicken.
Somit war die Familie R. glücklich und komplett. Seine Mutter, Gerhard, Margarethe, Sonja und Lena wohnten in des anfangs Häuschen in Raibach, das später zu einer Villa mutierte.
Das handwerkliche Geschick hatte Gerhard wohl von seinem Vater geerbt, denn er entwickelte sich zu einem Allrounder – Talent. Egal, was es ist, er hat sich damit auseinandergesetzt und sich vieles angeeignet.
Aber wie bei jedem Menschen im Leben gibt es auch bei ihm Höhen und Tiefen.
Mit seinen 66 Jahren muss ich sagen, dass man ihm das Alter überhaupt nicht ansieht. Sportlich, muskulöser Körperbau und konditionell könnte er manch jüngerem noch Konkurrenz machen. Das tägliche Radfahren, 2x wöchentlich ins Fitnessstudio und täglich an der frischen Luft hält ihn körperlich sowie geistig jung und fit. Soziale Kontakte werden dabei ebenfalls gepflegt, beim 2x wöchentlichen Fitness, regelmäßiger Kontakt zu alten Arbeitskollegen, Nachbarschaft, regelmäßige Einladungen zu Freunden, Fahrradclique.
Ich persönlich kann mir relativ gut vorstellen, dass die damalige Flucht sich bei ihm tief ins Unterbewusstsein eingeprägt hat. Das hat er mir auch bestätigt. Obwohl er sich nicht mehr so sehr daran erinnert, seine Umwelt hat ihn zu jungen Jahren spüren lassen, dass er ein Außenseiter war. Zumindest hatte er es für sich so empfunden. Und gerade deswegen hatte er sich in der Schule umso mehr angestrengt, um sich später sich und Anderen beweisen zu können. Sein Ehrgeiz hat ihn damals während der Schulzeit zu einem Einzelgänger gemacht. Während andere mit zehn, zwölf Jahren draußen spielten und die Natur erkundeten, saß er zu Hause und lernte. Mitschüler hänselten ihn und nannten ihn Streber.
Kein Wunder, dass er sich deswegen immer mehr zurückzog. Um seinen Frust an beliebiger Stelle abreagieren zu können, war ihm in dieser Zeit sein einziger Trost das Essen. Er war zwar nicht übermäßig dick, aber man konnte schon sagen, dass er ein kleines Pummelchen war. Das Essen füllte das große Loch von innerer Leere, das in ihm entstanden war und manchmal drohte, ihn aufzufressen. Ein weiterer Punkt, weswegen er wegen seiner Pummeligkeit in der Schulclique nicht akzeptiert wurde. Er selbst wusste auch, dass er nicht gerade der schlankeste war und schämte sich deswegen. Sportarten wie Fußball spielen oder einfach nur schnelles rennen fiel ihm schwerer als manch anderem in seinem Alter.
Seine Eltern unterstützten ihn in dieser Zeit, in der der sie nur konnten. Wie ich oben schon benannt habe, entwickelten sie zu den Wirtsleuten ein inniges und freundschaftliches Verhältnis. Gerhard empfand es für sich wie eine Art große Familie, er kannte sie schließlich von klein auf. Weihnachten, Ostern und Geburtstage wurden stets zusammen gefeiert. Die Wirtsleute haben selbst auch zwei Kinder, ein junge und ein Mädchen, die aber über zehn Jahre jünger als Gerhard sind. Im späteren Erwachsenenalter entwickelt sich daraus eine gute Freundschaft und Nachbarschaft.
Gerhard beendete die Oberschule und es schien sich alles soweit gut zu entwickeln. Seine Mutter und sein Vater hatten das Häuschen gegenüber dem Wirtshaus zu einem wahren Schmuckstück erglänzen lassen und er fühlte sich wohl. Seine Familie stand hinter ihm. Doch mit seinen 17 Jahren sollte ihm dieses Glück und diese Geborgenheit genommen werden. Er beendete gerade seine Oberschule, als ihn die Nachricht erreichte, sein Vater müsse wegen starken Unterbauchbeschwerden ins Krankenhaus eingeliefert werden.
Er hatte zwar öfter gehört, dass er Abdominalbeschwerden hatte, jedoch hatte er es nicht so ernst genommen. Schnell ging er mit seiner Mutter ins Krankenhaus, wollte wissen, was los war. Dort wurde ihnen mitgeteilt, dass es ernst war und sie den Bauchraum öffnen mussten.
Als er mir dies alles erzählte, sah ich seinen Blick in die Ferne abschweifen und seine Augen nahmen einen traurigen und glanzlosen Ausdruck an. Auch heute noch nach über 40 Jahren sah ich Tränen in seinen Augen schimmern.
Er sagte mir mit leiser Stimme, dass es nicht mehr lange mit seinem Vater ging. Nachdem sie den Bauchraum geöffnet hatten, machten sie ihn rasant wieder zu. Es war schon alles voller Metastasen und es bestand keine Hoffnung auf Leben mehr für ihn. Wenige Tage später starb er in den Armen seiner Mutter. Ich weiß nicht, warum man ihr erzählte, dass es die Gallensteine gewesen wären, machte es dies für sie erträglicher? Ich weiß es nicht.
Psychisch ging es ihm in dieser Zeit nicht sonderlich gut. Nun hieß es für ihn stark sein. Stark für das, was jetzt auf ihn zukommen würde. Er hatte seinen Vater verloren. Sein Vater, der immer für ihn da gewesen ist, der immer für seine Mutter da gewesen ist, sein Vater, der immer Reparaturen im Haus gemeistert hat. Sein Vater, der immer einen guten Spruch auf Lager hatte, wenn es ihm einmal nicht so gut ging, sein Vater, der das Geld mit nach Hause brachte, sein Vater, der immer ein offenes Ohr für alle hatte.
Innerlich hätte er schreien können vor Schmerz, es zerriss vor Wut darüber, dass die Ärzte nichts mehr für ihn tun konnten. Nachts und auch sonst manchmal heimlich, weinte er. Seiner Mutter gegenüber wollte er stark sein. Er wollte ihr von jetzt an eine Stütze sein. Er, als einziger Mann jetzt im Hause. Er nahm eine neue Rolle an. Zugewiesen oder erworben? Ich glaube, darüber kann man diskutieren.
Das ganze zehrte an ihm, und in dieser Zeit nahm er merklich an Gewicht ab. Der Appetit ließ nach, vor lauter Sorgen um seine Mutter. Sorgen um Sorgen bereiteten ihm schlaflose Nächte.
Seine Mutter war dankbar für jede Hilfe, die sie von ihm bekam. Doch so wie früher würde es wohl nie mehr werden. Inzwischen musste er sich um alles kümmern, um das Haus, doch wie heißt es so schön? Man kann alles lernen, wenn man nur will. Für ihn persönlich änderte sich nun auch seine Berufsplanung. Ursprünglich plante er zu studieren.
Doch woher sollte er dies finanzieren? Sicherlich hatte sein Vater einiges hinterlassen, und Witwenrente bekam seine Mutter auch, doch davon allein konnte man nicht lange leben. So beschloss er, eine Ausbildung zum Werkzeugmacher zu beginnen, um wenigstens etwas Geld zu verdienen. Seine Rolle als Einzelgänger legte er in dieser Zeit mehr und mehr ab. Jedoch war er es, der sich um alles kümmern musste und für sich selbst verantwortlich war.
Die Jahre verstrichen so langsam. Seine Mutter hatte sich keinen Mann mehr ins Haus geholt und auch Gerhard hatte nur dürftig Frauenbekanntschaften. Er hatte sich gut in die Rolle des Hausmannes hineingelebt. Auch handwerklich hatte er sich einiges aneignen können. Die Ausbildung hatte er auch mit Bravour abgeschlossen und er konnte sich sein erstes Auto leisten, einen Fiat. Nachdem sich auch seine Mutter wieder etwas gefangen hatte, nahm sie eine Arbeitsstelle bei der Post an. So verdiente sie auch ihr eigenes Geld. Gerhard konnte nun auch seinen Wunsch zu studieren, verwirklichen. In seinem Betrieb wurde es ihm angeboten, sich auf dem Maschinenbaugebiet weiterzuentwickeln.
Dieses Angebot nahm er selbstverständlich an. Psychisch ging es ihm in dieser Zeit, 4 Jahre nach dem Tod seines Vaters, wieder relativ gut. Durch den Verlust wurde die Freundschaft zwischen den Wirtsleuten und ihm und seiner Mutter noch intensiver, sie versuchten zu helfen, wo sie nur konnten. Sie waren wirklich eine große Unterstützung. Skatabende, „Mensch ärgere dich nicht“ Abende und einfach nur „gemütlich beisammen sein“ Abende füllten ihr Leben etwas aus. Vor allem brachten sie Licht in die traurigen und nachdenklichen Momente.
Sein Studium verlief gut. Seinen Traum konnte er sich jetzt verwirklichen.
Mit 27 Jahren lernte er dann auf einer Montage die Frau seines Lebens kennen. Er war unterwegs am Bodensee und lernte sie in einer Bäckerei kennen. Sie verkaufte ihm Brötchen und schenkte ihm das bezauberndste Lächeln, das er je gesehen hatte.
Er wusste, das war sie. So wurde dann aus einer anfänglichen guten Freundschaft die große Liebe. So gut wie damals hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Er war rundum glücklich. Glücklich mit der ganzen Welt, himmelhochjauchzend und voller Schmetterlinge im Bauch tänzelte er zu Hause herum und freute sich immer wieder auf ein erneutes Wiedersehen mit seiner Margarethe. Sie wohnte in Ravensburg und die beiden konnten sich somit nur 1–2 Wochenenden im Monat sehen. Margarethe war damals 18 Jahre alt. Auch körperlich fühlte er sich fit wie ein Turnschuh. Er fühlte sich, als könnte er Bäume ausreißen.
Er hatte plötzlich wieder zu viel mehr Lust. Er fing sogar an, Fußball in seiner Freizeit zu spielen. Das Gefühl, ein Außenseiter zu sein, hatte er verloren im Laufe der Jahre. Auch die Beziehung zu Margarethe half ihm, sich selbst zu akzeptieren und sich fremden Gegenüber mehr zu öffnen. Das „große leere Loch“, das früher drohte, ihn aufzufressen, war verschwunden.
Das unregelmäßige Essen legte sich und der Körperbau wurde muskulös. Nach 4 Jahren beschlossen die beiden, sich das „Ja –Wort“ zu geben und wagten den Schritt vor den Traualtar. Gerhards Mutter hatte Margarethe natürlich schon im Laufe der 4 Jahre kennengelernt. Und wie das natürlich immer so ist mit den Schwiegermüttern und Schwiegertöchtern, am Anfang mag sie die Schwiegertochter, doch ist sie dann erst einmal im Haus oje oje …
Margarethe zog nach der Heirat in das Haus mit ein. Am Anfang schien das alles gut zu laufen. Natürlich war die Mutter eifersüchtig auf sie, aber am Anfang versucht man vielleicht noch etwas darüber hinwegzuschauen.
Auf jeden Fall war das Drama vorprogrammiert. Mit den beiden klappte es überhaupt nicht unter einem Dach. Was aber weniger an meiner Tante Margarethe lag. Die Eifersucht seiner Mutter war einfach zu groß. Jahrelang war sie es gewohnt, dass sich ihr Sohn um sie kümmerte und nun sollte sich das ändern?
Gerhard steckte in einem wirklichen Zwiespalt. Er liebte seine Margarethe über alles, ihre natürliche Art, mit Menschen umzugehen, ihre Art andere zum Lachen zu bringen, ihre unkomplizierte Art. All das machte ihn zu einem glücklichen und zufriedenen Menschen. Doch seine Mutter brachte ihn zum Verzweifeln. Sie konnte nicht damit klarkommen, dass indessen noch eine zweite Frau im Hause lebte. Ständig hatte sie etwas zu meckern, schimpfte über Margarethe und machte sie schlecht.
Er verstand das nicht, war sie nicht mit ihm glücklich, dass es ihm gut ging? Am Anfang versuchte er zu schlichten, mit der Zeit merkte er jedoch, dass es nichts brachte. Auf der Arbeit konnte er sich nicht richtig konzentrieren, weil er sich ständig Sorgen machte, was ihn zu Hause wieder erwartete. Das ganze legte sich auch merklich auf seinen Magen aus, er bekam durch den ständigen Ärger und Stress zu Hause einen Reizmagen und Reizdarm, was nicht gerade sehr angenehm ist.
Er bewunderte Margarethe für ihre Geduld und Ruhe, die sie mit seiner Mutter hatte, er hatte es nicht. So kam es des Öfteren zu einem unschönen Wortwechsel zwischen ihm und seiner Mutter. Sicherlich tat sie ihm auch leid. Doch was sollte er tun? Er musste auch mal an sich denken, er konnte nicht immer das Muttersöhnchen sein, das er die ganzen Jahre über war. Er hatte auch ein Recht auf die Rolle des Ehemannes. Das ganze machte ihn psychisch dermaßen fertig, dass er nachts kaum noch schlafen konnte.
Seine Frau beschwichtigte ihn und meinte, er solle seiner Mutter noch etwas Zeit lassen, sich an sie zu gewöhnen. Er musste sich wirklich zusammenreißen. Ständig war er auf der Arbeit gereizt, gab seinen Kollegen öfter patzige Antworten, die natürlich nicht wussten, was los war. So distanzierten sie sich von Gerhard und er war wieder so ein klein wenig der Einzelgänger, der er früher einmal war.
Das ganze zog sich eine ganze Weile so hin, bis Gerhard und Margarethe beschlossen, mit seiner Mutter mal ein ernstes Wörtchen zu reden. Sie stellten sie vor die Wahl: Entweder sie versuchte endlich zu akzeptieren, dass nun eine 2. Frau inzwischen im Hause war, oder sie würden ausziehen und sich woanders ein Zuhause einrichten.
Gerhards Mutter entschied sich für den ersten Vorschlag. Sie wollte nicht allein bleiben.
Von diesem Tag an war das Verhältnis zwischen Gerhards Mutter und Margarethe wesentlich lockerer und entspannter.
27 Jahre später:
Tochter Lena ist 18 und Tochter Sonja ist 22 Jahre alt.
Lena war von klein auf Gerhards Sonnenschein gewesen. Sie hatte gute Leistungen in der Schule, war immer brav und artig und brachte andere zum Lachen. Doch mehr oder weniger schien sie sich mit Beginn der Pubertät negativ zu verändern. Sicherlich wusste er, dass Teenager in dem Alter launisch waren. Doch das war es gar nicht. Sie wirkte so verschlossen.
Als sie dann so 17 Jahre alt war, ließen auch die Leistungen in der Schule nach. Sie hatte auch Freundinnen, die ihm gar nicht so recht waren. Abends ging sie nun immer öfter in die Disco, hauptsächlich freitags und samstags. Die Eltern versuchten, Gespräche mit ihr zu führen, doch sie blockte ab. Hatte keine Lust darauf. Gerhard brodelte innerlich. Er wollte sie doch nur zur Vernunft bringen.
Als er dann noch mitbekam, dass sie das Rauchen anfing und betrunken nach Hause kam, platzte ihm endgültig der Kragen. Es kam immer öfter zu Auseinandersetzungen in der Familie. Er hatte einen großen Streit mit seiner Frau Margarethe deswegen. Sie stritten sich darüber, wer schuld an dem misslichen Verhalten war. Wie man das Ganze am besten angehen konnte. Gerhard versuchte immer wieder, mit Lena vernünftig zu reden, doch sie ließ niemanden an sich herankommen.
Nur ihre Freunde schienen ihr noch wichtig zu sein. Die „falschen“ Freunde. Das machte alle in der Familie nervlich und körperlich kaputt. Margarethe bekam Bluthochdruck und Gerhards Reizdarm verstärkte sich dadurch noch mehr. Ständig hatte er rasende Kopfschmerzen und er nahm an Gewicht ab. Er fühlte sich elend. Wieso tat seine Tochter ihnen das alles an? Was fehlte ihr denn?
Er stürzte sich in seine Arbeit, sei es zu Hause oder auf der Arbeit. Wenn er ein paar Tage auf Montage konnte, war er froh ein wenig Abwechslung zu haben. Trotzdem litt seine berufliche Arbeit darunter. Er war mit den Gedanken oft bei Lena und konnte sich nicht konzentrieren. Selbstvorwürfe quälten ihn und zugleich empfand er Wut, Enttäuschung und doch auch gleichzeitig Liebe für seine Tochter. Seiner Frau ging es körperlich schlecht. Sie bekam durch die ständige Aufregung Herzrasen.
Verständlich, ihm ging es nicht besser. Lena trank immer öfter und heimlich Alkohol, der Griff zur Flasche wurde zum alltäglichen für sie. Gerhard verstand das nicht. Sie hatte doch keine ernsthaften Probleme, die dieses Verhalten erklären würde! Ständige Meinungsverschiedenheiten zwischen den Eheleuten und die innerliche Zerrissenheit führten die beiden schließlich zu einem Psychologen. Die Nachbarschaft hatte mittlerweile auch mitbekommen, dass mit dem sonst so lieben Mädchen etwas nicht stimmte.
Es sprach sich schließlich herum. Gerhard war das Ganze überaus unangenehm und wusste manchmal auch nicht, was er darauf antworten sollte, wenn man ihn darauf ansprach. Zuerst wollte er seine Tochter verteidigen, er wollte sie vor den bösen Zungen schützen. Doch später dann war es ihm egal, was man darüber redete. Es trat eine gewisse Gleichgültigkeit und Hilflosigkeit der ganzen Situation gegenüber ein. Er fühlte sich hilflos und als Versager. Manchmal trat auch wieder dieses alt bekannte „schwarze Loch“ wieder auf, und dann musste er es wieder mit Essen füllen, dann ging es ihm abermals kurzfristig besser.
Der Psychologe konnte in puncto Schuldfrage ihnen etwas weiterhelfen, er nahm die Last von den beiden ab. In dieser Sache sollte man nicht nach einer schuldigen Person suchen, die gab es nicht. Vielmehr sollte man nach den Punkten suchen, die zu dem Verhalten geführt haben? Lena sollte einsichtig sein, sonst würden ihr Gerhard und Margarete nicht helfen können.
Gerhard und Margarethe mussten auch lernen, von ihrer Tochter loszulassen, sie konnten sie nicht beschützen. Sie war mittlerweile 18 Jahre alt und machte, was sie wollte. Sie musste nun auf eigenen Beinen versuchen zu gehen und musste nun versuchen, laufen zu lernen. Auch wenn sie dabei hinfiel, ihr beim Aufstehen zu helfen und ihr dabei die Hand zu reichen, das konnte Gerhard. Sich auf die Beine zu stellen und den richtigen Weg einzuschlagen, das musste sie allein.
Die ganze Situation zeigte, dass Gerhard in guten wie in schlechten Zeiten zu seiner Frau und zu seiner Tochter hielt.
Gerhard ging mit 58 Jahren in Altersteilzeitrente. Er hatte einen guten Posten in Betrieb gehabt und bekommt jetzt eine gute Rente. Seine Frau pflegt inzwischen seine pflegebedürftige 84-jährige Mutter.
Er ist mit seinem Leben so, wie es gelaufen ist, bisher recht zufrieden. Sicherlich würde man die eine oder andere Kleinigkeit heute vielleicht anders machen, aber wie sagt man so schön? Hinterher ist man immer schlauer. Lena hat sich im Laufe der Jahre doch noch gefangen. Nachdem sie ganz unten angelangt war und körperlich sowohl auch psychisch vom Alkohol abhängig war, hat sie mit 21 Jahren eine Langzeittherapie für junge Alkoholiker in der Nähe von Freiburg begonnen. Ganz ohne Druck von Gerhards Seite ging es jedoch nicht, sie hat es dann jedoch auch gewollt und eingesehen. In der Einrichtung war sie 2 ½ Jahre. Sie hat dann eine Ausbildung als Krankenschwester begonnen.
Gerhard kann von sich aus sagen, dass er die Midlife-Crisis gut überstanden hat und aus seinem Leben eine positive Bilanz gezogen hat. Sein berufliches Ziel hat er erreicht, er hat sich zwei Häuser erbaut, hat ein gutes soziales intaktes Umfeld und ist heute mit seinen 66 Jahren gesund.
Seine kristalline Intelligenz hat sich im Laufe der Jahre verfestigt und kann ihm niemand mehr nehmen. Seinen Tagesablauf kann er gut gestalten, Langeweile tritt bei ihm nie auf. Das ist wirklich so. Jeden Morgen zum 3 km entfernten Bäcker werden mit dem Rad Brötchen geholt. Egal bei welchem Wetter. Da kann es stürmen oder regnen, schneien oder glatt sein, Gerhard holt seine Brötchen auch gleich für die Nachbarschaft mit. Das hält seinen Kreislauf fit und jung, das Immunsystem wird gestärkt, der Muskelaufbau ist gewährleistet und der Arthrose wird vorgebeugt. Außerdem meint er, das braucht er. Das hält Körper und Geist jung. Beim Bäcker trifft er bekannte Leute, ein kurzer Plausch wird gehalten.
Doch lange lässt er sich nicht aufhalten, schließlich hat er tagsüber noch vieles vor. Auch für seine letzte Arbeitsstelle bekommt er noch kleinere Aufträge, über die er sich immer wieder freut. Die jüngeren Nachkommen lernen manches nicht mehr von dem, was er noch kann. Das stärkt sein Selbstwertgefühl und er fühlt sich gebraucht und anerkannt. Und sein Wissen wird weiterhin angewendet und verblasst nicht. Somit reißen auch alte Kontakte zu Arbeitskollegen nicht ab. Im Gegenteil, zu Weihnachtsessen und manch anderen Feiern ist er immer ein gerne gesehener Freund. Das alles hält seinen Geist, seinen Körper noch jung und fit.
Wenn man ihn so sieht, könnte man nicht denken, dass er schon 66 Jahre alt ist. Wenn man ihn in ein Modell zuordnen müsste, würde ich sofort sagen, er gehört zu dem Aktivitätsmodell. Immer aktiv, tut etwas für seinen Geist, für seine Gesundheit, für seine sozialen Kontakte. Er ist immer hilfsbereit.
Sicherlich bewirkt das auch seine 10 Jahre jüngere Frau. Auch sie hält ihn durch ihre muntere Art und ihren Humor geistig auftrabt. Unternehmungsfreudig sind sie beide. Im Winter Ski-fahren, im Sommer Wandern, Reisen und Radfahren.
Ich bedanke mich bei Herrn Gerhard R. für seine offene Art, mit mir über sein Leben zu sprechen und wünsche ihm weiterhin viel Gesundheit und ein langes, glückliches, zufriedenes Leben.
Sabine N.