Kinästhetik in der Altenpflege Seite 2
Ich hatte am Anfang große Mühe mit stark adipösen Bewohnern, da wir auf der Nachtwache ohne Hilfe lagern müssen. Heute beherrsche ich verschiedene Möglichkeiten zur Gewichtsverlagerung und Mobilisation.
Körpereinsatz
Am Anfang hatte ich regelmäßig Muskelkater. Ich hatte auch mehr Rückenschmerzen als sonst. Mit der Zeit bewegte ich mich nicht mehr so verkrampft und inzwischen schmerzt auch der Rücken nicht mehr! Ich habe bemerkt, dass wenn ich einen guten Körpereinsatz mache, die Gewichtsverschiebung besser wird und demzufolge die ganze Mobilisation harmonischer abläuft. In Bezug zu den Bewohnern: Ich habe festgestellt, dass ein guter Körpereinsatz das A und O in der Gewichtsverlagerung bildet. Je besser die Gewichtsverlagerung, umso einfacher geht der Lagenwechsel.
Flexibles Handling
Am Anfang habe ich mich an die vorgegebenen Mobilisation gehalten. Heute bin ich in der Lage, angepasst und individuell zu mobilisieren. Es macht mir Freude, etwas Neues auszuprobieren und die Mobilisation anzupassen. In Bezug zu den Bewohnern: Ich kann mich inzwischen gut auf unsere Bewohner einstellen und flexibel mit ihnen zusammenarbeiten. Was nicht nur in der Kinästhetik Vorteile bringt.
Koordination
Bei der Abstimmung zwischen den Bewegenden und mir gab es von Beginn weg wenige Probleme. Die Koordination wurde während der Ausbildung noch verfeinert.
2. Bewohner Kurzvorstellung.
Frau Gertrud W. wurde am 01.01.0001 in XXXXXXXX geboren …
2.1 Ist-Zustand
Der Zustand von Frau W. ist im Moment mäßig, denn sie fühlt sich matt und schwach. Sie hat kaum Appetit und isst sehr wenig. Frau W. ist nicht sehr eingeschränkt. Sie arbeitet immer gut mit und ist motiviert, so selbstständig wie möglich zu sein. Jedoch ist sie zeitweise zeitlich desorientiert. Ihr Hörvermögen ist etwas eingeschränkt, sie trägt Hörgeräte. Frau W. erzählt sehr gerne.
Ärztliche Diagnosen:
- Absolute Tachyarythmie
- Diabetes Mellitus Typ II
- Eisenmangelanämie
- Gonarthrose
- Herzinsuffizienz
AEDL’s / sich bewegen können
Frau W. kann aufgrund ihrer Krankheit (Gonarthrose) nicht gehen, sie hat sehr starke Schmerzen in der Hüfte. Sie kann für eine kurze Zeit mit Hilfestellung am Waschbecken oder am Bettgitter stehen. Nach der Grundpflege wird sie von 2 PK’s in den Rollstuhl mobilisiert. Beim Ankleiden braucht sie Unterstützung. Ihr Unterkörper wird von den Pflegekräften gewaschen und angekleidet. Sie hat eine AD Matratze, denn nach der Braden Skala hat sie mit 16 Punkten ein erhöhtes Dekubitusrisiko. BMI = 28,6 Bewohnerin ist übergewichtig.
2.2 Zielsetzung
Durch die erlernten Bewegungs- und Handlungsfähigkeiten können Sie das Risiko von berufsbedingten Verletzungen und Überlastungsschäden z. B.: an der Wirbelsäule reduzieren.
Das Konzept der Kinästhetik wird von den Berufsgenossenschaften zur Vorbeugung von berufsbedingten Erkrankungen im Muskel – und Skelettsystem empfohlen.
Das Umsetzen der kinästhetischen Prinzipien bei den pflegerischen Aktivitäten fördert die Gesundheitsentwicklung von Bewohner / Patient und Mitarbeiter.
Sie lernen, Menschen schmerzfrei zu berühren und zu bewegen, anstatt sie zu heben. Dadurch können Sie Ihre eigene körperliche Anstrengung reduzieren.
Die betroffene Person (Patient/Bewohner) erfährt bei allen Bewegungsaktivitäten die Selbstkontrolle über ihre Bewegung. Dadurch wird die Körperwahrnehmung gefördert und Bewegungsabläufe können neu gelernt werden.
Pflegende lernen das Konzept Kinästhetik als Denkwerkzeug kennen und entwickeln Fähigkeiten, den betroffenen Menschen so in seiner Bewegung zu unterstützen, dass er in seinem Körper orientiert ist. Pflegende lernen dadurch, auf ihre eigene Gesundheit zu achten und ihr jeweiliges Handeln zu hinterfragen und zu überprüfen.
Das Konzept unterstützt Sie in Ihrer Interaktion mit der zu pflegenden Person und fördert Ihre aktivierende Pflege. Es entsteht ein Lernprozess über die Bewegung zwischen Patient / Bewohner und Pflegenden. Die Bewegungsanleitung wird nicht jeden Tag gleich sein. Sie lernen, sich an den Fähigkeiten des Menschen zu orientieren.
Mit der Umsetzung dieses Konzeptes erfülle ich die Anforderungen einer aktivierenden Pflege, wie z. B.: im SGB XI Pflegeversicherungsgesetz gefordert wird. Im § 28 (4)Leistungsarten, Grundsätze heißt es: „1, die Pflege soll auch die Aktivierung des Pflegebedürftigen zum Ziel haben, um vorhandene Fähigkeiten zu erhalten und, soweit dies möglich ist, verlorene Fähigkeiten zurückgewinnen. 2 Um der Gefahr einer Vereinsamung des Pflegebedürftigen entgegenzuwirken, sollen bei Leistungserbringung auch die Bedürfnisse des Pflegebedürftigen nach Kommunikation berücksichtigt werden.“
3. Praktische Anwendung.
Ausgangsposition. Die zu bewegende Person befindet sich in Rückenlage.
1. Bewegungsschritt.
Die Übende platziert die dem Kopf nähere Hand unter den Kopf der Liegenden. Hierfür rollt sie den Kopf sanft zur Seite, legt die Hand flächig neben den Kopf und rollt diesen zurück in Mittellage. Der entfernt liegende Arm der Liegenden kann unterstützend über die Körper diagonale gelegt werden.
2. Bewegungsschritt.
Die Bewegung beginnt in Mittelstellung des Kopfes, die Hand trägt das Gewicht des Kopfes. Wichtig ist, dass die Bewegung nicht mit seitwärts
gedrehtem Kopf beginnt. Der Kopf wird mit der darunter liegenden Hand in ein leichtes Drehen-Beugen bewegt, sodass er die Auflagefläche verlässt. Dies bewegt eine Brustkorbseite von der Auflagefläche, sodass jetzt die zweite Hand tief unter den Brustkorb geschoben wird.
3. Bewegungsschritt.
Die Dreh-Beuge-Bewegung von Kopf und Brustkorb wird fließend weitergeführt, das Gewicht wandert auf eine Körperseite und gleichzeitig
vom Kopf auf den Brustkorb, sobald der Kopf nicht mehr gegen die Schwerkraft gehalten werden muss, kann die stützende Hand zum Brustkorb wandern
Durch die Dreh-Beuge-Bewegung stützt der liegende Arm aktiv oder passiv das Hochrollen des Oberkörpers, bis das Gewicht vollständig auf dem Becken
ruht und die Person sich im Sitzen befindet, die Übende unterstützt das Gleichgewicht im Sitzen durch den Handkontakt am Brustkorb.
4. Bewegungsschritt.
Die Armführung über die Körper diagonale unterstützt die Sitzende, durch eine Dreh-Beuge-Bewegung zurück ins Liegen zu kommen. Brustkorb und Kopf sinken nacheinander gestützt durch den Handkontakt der Helfenden sowie durch den eigenen Arm zurück. Das Gewicht wandert vom Becken
zum Arm und Brustkorb bis zum Kopf.
Ausgangsposition. Frau W. sitzt nach dem Aufrichten aus dem Liegen im Bett.
1. Bewegungsschritt.
Grundsätzlich wird mit der Gewichtsverlagerung auf eine Körperseite begonnen. Über den Kontakt am Brustkorb bewegt die Übende die Sitzende von sich weg. Die Sitzende kann durch das Aufstützen ihrer Arme das eigene Gleichgewicht sichern
Das Bein auf der Gewicht freien Seite, das der Übenden näher ist, wird einen Schritt zur Bettkante bewegt.
2. Bewegungsschritt.
Das Gewicht wird auf die andere Körperseite verlagert. Das Gewicht freie Bein wird nach bewegt.
In dieser Weise können sitzende Personen im Bett auch Richtung Kopf- oder Fußende bewegt werden.
Weitere Bewegungsschritte.
Die Pflegende bewegt die Sitzende einmal von sich weg, dann auf sich zu. Das Gewicht muss so weit verlagert werden, dass der jeweilige Sitzbeinhöcker tatsächlich entlastet ist. Das Gehen um die eigene Achse endet in Sitzposition auf der Bettkante.
Danach kann die Sitzende noch weiter nach vorne gebracht werden. Der Handkontakt wird verändert, er ist jetzt am Brustkorb und Becken. Die Hand am Brustkorb bewegt das Gewicht von einer Körperseite zur anderen und stützt das Gleichgewicht, die Hand am Becken bewegt Schritt für Schritt.
Ausgangsposition. Frau W. sitzt auf der Bettkante.
Denn jetzt folgt der Transfer von der Bettkante nach links in den Rollstuhl. Diese wird an das Bett gestellt, nach an den Bewohner ran. Die Bremsen müssen festgestellt werden um die am Bett stehende Armlehne wird nach hinten geklappt um die Fußstützen abmontiert. Über das freilegende Rad kommt ein Müllbeutel z. B. damit das Kissen, was anschließend zur Polsterung darauf gelegt wird, nicht beschmutzt wird. Nun setzt sich das PK auf die andere Seite des Bewohners, wo nicht der Rollstuhl steht, daneben und zeigt Frau W. wo sie hin transferiert werden soll und diese Richtung stützt sich die Bewohnerin mit einem Arm ab. Das PK. Legt ihre äußere Hand auf der Oberschenkellänge (Oberhalb des Knies/ mit leichten druck bei den anstehenden Bewegungen) und die andere Hand wird unter die Gesäß Hälfte geschoben (wobei Zug ausgeübt wird). Der Druck auf dem Oberschenkel Ende und der Zug unter der Gesäßhälfte (gesehen von der Pflegekraft) übt die natürliche Bewegung von Frau W. aus.
Die beugt sich etwas nach vorne, verlagert ihr Schwerpunkt in ihre Beine auf ihre Füße und hebt automatisch das Gesäß an. In diesen Moment rutscht die PK. Mit etwas Druck ein Stück in Richtung Rollstuhl und gibt dem Zug und den Druck in den Händen nach. Die Bewohnerin setzt sich wieder hin und kann sich ggf. einen Moment ausruhen und orientieren, in welchen Zeit wir wunderbar die Füße nachstellen können. Anschließend wird diese physiologische Bewegung wiederholt, bis Frau W. Stück für Stück in den Rollstuhl gesetzt wird. Den Frau W. in den Rollstuhl sitzt, wird sie mit dem gleichen Zug und Druckbewegung etwas nach hinten gesetzt. In dem einen zweiten PK beide Hände in dem Moment, wo sich die Bewohnerin nach vorne beugt, unter das Gesäß schiebt und ebenfalls Zug zu sich ausübt, um die Bewohnerin nach hinten zu sitzen. Jetzt kann das Polsterkissen entfernt werden sowie Fußstützen werden vorsichtig wieder angebracht.
3.1 Feedback von mir und von der Bewohnerin:
Meine Arbeit verbessert sich ständig in Bezug auf Koordination von Abläufen nicht nur bei der Kinästhetik an sich. Auch im Allgemeinen Arbeiten finde ich schneller meinen Rhythmus. Stück für Stück bekam Bewegung einen anderen Stellenwert, einen höheren Stellenwert, nicht nur in der Pflege für mich.
Mein Bild von der Anatomie des Körpers veränderte sich ebenso. Es ist faszinierend zu sehen, wie z. B. die Stellung des Fußes die Bewegung des Oberkörpers hemmen oder erleichtern kann.
Das Ganze bewirkte nicht nur, dass sich die Patientensituation durch verstärkte Mobilisation verbesserte, auch die Interaktion zwischen den Patienten und mir erreichte eine „professionellere“ Ebene.
Die Zusammenarbeit mit Frau W. hat mir in den letzten Monaten sehr viel Spaß gemacht. Ganz am Anfang war die Umsetzung von kinästhetischen Prinzipien nicht so einfach.
Die Bewohnerin war am Anfang mit der Hin und Her Bewegungen nicht begeistert.
Aber durch meine Überzeugung, Zeit und durch langsame Einführung in das Konzept hat sie sich daran gewöhnt und hat letztlich verstanden, worum das Konzept sich handelt, sie nahm auch ihren eigenen Körper wieder vermehrt wahr, brachte Eigenbewegung mit hinein.
Auf mich bezogen verstand ich zum ersten Mal, wie wichtig ein Warm-up ist und welche Auswirkung fortlaufende Bewegung auf meinen Körper und den der Bewohnerin hat. Die Anleitung auf der Station, vorwiegend von Mitarbeitern ohne kinästhetische Erfahrung, stellte sich in den ersten Wochen als sehr schwierig dar. Die meisten waren anfänglich sehr interessiert, hielten sich jedoch bald sehr zurück, da sie merkten, dass man Kinästhetik nicht in kurzer Zeit erlernen kann und man viel üben muss.
Link Tipps:
https://www.pflege.de/pflegende-angehoerige/pflegewissen/kinaesthetik-mobilisation/
Lernvideo: Kinästhetik für Menschen mit Demenz
Literaturverzeichnis
1. In guten Händen – Altenpflege, Band 1
- Titel: in guten Händen
- Verlag: Cornelsen Verlag
Erscheinungsort und Jahr: Berlin, 2005 - Seitenzahl Buch : 688
2. Spielerisches Lernen von Bewegung und Beziehung.
- Autorin: Heidi Bauder Mißbach
- Titel: Spielerisches Lernen von Bewegung und Beziehung
- Verlag: Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
- Erscheinungsort und Jahr: Hannover, 2005
- Seitenzahl : 281
Link Tipps:
https://www.bewegungskompetent.com/
Video: Kinästhetik in der Pflege