Autor/in: Unbekannt

Was seht ihr Schwestern …….

Was seht ihr, Schwestern, was seht ihr? Denkt ihr, wenn ihr mich anschaut: Eine mürrische, alte Frau, nicht besonders schnell, verunsichert in ihren Gewohnheiten, mit abwesendem Blick, die ständig beim Essen kleckert, die nicht antwortet, wenn ihr mit ihr meckert, weil sie wieder nicht pünktlich fertig wird. Die nicht so aussieht als würde sie merken, was ihr mit ihr macht. Die willenlos alles mit sich machen lässt: „Füttern, waschen und alles, was dazu gehört“.

Denkt Ihr denn so von mir, Schwestern, wenn Ihr mich sieht, sagt?

Öffnet die Augen, Schwestern, schaut mich genauer an! Ich will Euch erzählen, wer ich bin, die hier so stillsitzt, die macht, was ihr möchtet und isst und trinkt, wann es Euch passt!

Ich bin ein zehnjähriges Kind, mit einem Vater und einer Mutter, die mich lieben und meine Schwester und meinen Bruder.

Ein sechzehnjähriges Mädchen, schlank und hübsch, die davon träumt, bald einem Mann zu begegnen.

Eine Braut, fast zwanzig, mein Herz schlägt heftig bei dem Gedanken an die Versprechungen, die ich gegeben und gehalten habe.

Mit fünfundzwanzig, noch habe ich eigene Kleine, die mich zu Hause benötigen.

Eine Frau mit dreißig, meine Kinder wachsen schnell und helfen einander.

Mit vierzig, sie sind alle erwachsen und ziehen aus. Mein Mann ist noch da und die Freude ist nicht zu Ende.

Mit fünfzig kommen die Enkel und sie erfüllen unsere Tage, wieder haben wir Kinder – mein Geliebter und ich.

Dunkle Tage kommen über mich, mein Mann ist tot. Ich gehe in eine Zukunft voller Einsamkeit und Not. Die Meinen haben mit sich selbst genug zu tun, aber die Erinnerungen von Jahren und die Liebe bleiben mein. Die Natur ist grausam, wenn man alt und krumm ist, und man wirkt etwas verrückt.

Nun bin ich eine alte Frau, die ihre Kräfte dahinsiechen sieht, und der Charme verschwindet.

Aber in diesem alten Körper wohnt immer noch ein junges Mädchen, gelegentlich wird mein mitgenommenes Herz erfüllt. Ich erinnere mich an meine Schmerzen, und ich liebe und lebe mein Leben noch einmal, das allzu schnell an mir vorbeigeflogen ist und akzeptiere kühle Fakten, dass nichts bestehen kann.

Wenn Ihr Eure Augen aufmacht, Schwestern, so seht Ihr nicht nur eine mürrische alte Frau. Kommt näher, seht mich.

Dieses Gedicht wurde von einer Sozialstation bei einer Verstorbenen Patientin gefunden.

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