Autor/in: Anonym

Aus Schülersicht
Gewalt und Gewaltvorbeugung in der Pflege

Das Thema Gewalt in der Pflege wird gerade bei Berufsanfängern stark diskutiert, nehmen diese doch besonders Verhaltensweisen wahr, die den langjährig Berufstätigen gar nicht mehr so deutlich werden. Schüler/innen haben Idealvorstellungen, die sie für ihre tägliche Arbeit in Anspruch nehmen wollen. Sie sind es auch, die den erfahrenen Kolleg/innen mitunter auf den Schlips treten müssen, um ihnen falsches Verhalten vor Augen zu führen. Denn Gewalt in der Pflege bedeutet nicht nur die körperliche Aggression — auch Missachtung und Vernachlässigung können Gewaltakte darstellen.

„Gewalt in der Pflege“ war bis vor kurzer Zeit weitgehend tabuisiert. Verschiedene Veröffentlichungen zu diesem Thema aus den letzten Jahren haben Schüler/innen und Lehrer/innen der Krankenpflegeschule am Krankenhaus St.-Jürgen-Straße in Bremen zu Diskussionen angeregt. Dabei stießen wir im Unterricht des Kurses 96b auf die Fragen:


› Welche Erfahrungen haben wir selbst mit Aggressionen und Gewalt in der Pflege gemacht?

› Welche Erklärungen lassen sich dafür finden, dass uns unsere beruflichen Ideale nicht jederzeit sicher vor aggressivem Verhalten gegenüber Patienten schützen?

› Gibt es wirksame Strategien zur Vermeidung von Aggressionen und Gewalt?

Im Rahmen des Fachs Sozialhygiene haben wir uns um Antworten auf diese Fragen bemüht. Zunächst haben wir konkrete Beispiele für die alltägliche Gewalt gesammelt. Hier eine willkürlich getroffene Auswahl:

Beispiele für Gewalt in der Pflege

Patient X wird in einem Dreibettzimmer von einem Mitpatienten wegen seines Umgangs mit der persönlichen Hygiene verurteilt. Mir erscheint der Patient als intelligenter, kommunikativer Mensch. Auch im Dienstzimmer weiß man von der genannten Schwäche des Patienten. Eine Schwester, selbst dem Patienten gegenüber ablehnend eingestellt, beschließt, den Mann auf eigene Faust zu isolieren. Sie schiebt ihn mit fadenscheinigen Begründungen in ein Einzelzimmer. Der Patient merkt, dass er auf Ablehnung stößt und ist deshalb sehr gekränkt.

Er spricht mich (den Schüler) daraufhin an; ich kann nicht viel sagen und zucke hilflos mit den Schultern. Ich signalisiere ihm aber, dass ich die Entscheidung nicht begrüße. Ich sehe mich als Schüler im Team in einem Loyalitätskonflikt.

Frau K., 88 Jahre alt, hat nachts massive vaginale Blutungen bekommen. Sie ist sehr nervös, steht auf, geht allein ins Badezimmer, um sich zu waschen, und klingelt. Schwester U. reagiert sehr grob, bezieht das Bert neu, ohne ein Wort zu sagen. Dieser Vorgang wiederholt sich einige Zeit später. Als die Patientin zum dritten Mal geklingelt hat, schreit die Schwester sie an: „Jetzt aber genug, nachts muss man schlafen!“

Ich erfuhr, wie ein Patient in einem anderen Krankenhaus in Bremen nach einem Schlaganfall behandelt wurde: Da er sehr hilflos war, klingelte er mehrmals nach der Nachtschwester. Er bat um eine zweite Decke, da ihm kalt war. Die Schwester antwortete schroff: „Also, Sie klingeln jetzt schon das fünfte Mal! Ich bin doch nicht schuld daran, dass Sie jetzt hier liegen. Ich habe noch mehr Patienten, was meinen Sie, wenn das jeder machen würde!“ Eine Decke bekam er nicht. Die Pflegenden im Frühdienst stellten fest, dass die Heizung auf null gestellt war.

Eine Woche später wachte er auf, als eine andere Nachtschwester ihm, ohne zu fragen, mitten in der Nacht ein Abführzäpfchen verabreichte. Nachdem er daraufhin zunächst auf dem Steckbecken abgeführt hatte, wünschte er, den Nachtstuhl zu bekommen. Dies hielt die Schwester für zu umständlich, sodass er eine Windel bekam. Als er kleinlaut nach einer Urinflasche zum Wasserlassen fragte, gab ihm die Schwester den Rat, den Urin in die Windel zu entleeren. Als der Patient von diesen Erfahrungen berichtete, weinte er.

Warum kommt es zur Gewalt?

Diese Beispiele sollen nicht den Eindruck erwecken, Fehler machten unserer Ansicht nach immer nur die anderen. Vielmehr sind wir der Überzeugung, dass jede und jeder von uns das eigene Handeln immer wieder kritisch überprüfen muss. Wie aber ist es zu erklären, dass Pflegende ihre Ideale vergessen und Patienten kränken oder gar ihre körperliche Integrität verletzen? Unseres Erachtens können die Gründe dafür bei den Pflegenden selbst, manchmal auch bei den Patienten und nicht selten in den bestehenden Arbeitsbedingungen auf den Stationen zu finden sein:

› So ist zu beobachten, dass einzelne Pflegende sich nach einiger Zeit im Beruf ein dickes Fell zulegen, um belastenden Erfahrungen gegenüber gewappnet zu sein. Andere haben die Lust und das Interesse am Beruf verloren, sodass sie jede besondere Erwartung von Patienten als Zumutung empfinden. Pflegebedürftige Patienten „nerven“ sie. Schließlich ist es möglich, dass persönlicher Frust oder eine augenblickliche Verstimmung das Verhalten des Pflegenden bestimmen und Patienten die üble Laune zu spüren bekommen.

› Es kommt vor, dass Patienten es den Pflegenden schwer machen, sie zu mögen. Es gibt Patienten, die den Pflegenden durch geringschätziges Verhalten ein Gefühl der Minderwertigkeit vermitteln, sodass diese sich provoziert fühlen. Andere Patienten „terrorisieren“ Pflegekräfte, weil sie übersteigerte Erwartungen an deren Dienstleistungen haben. Solche Erfahrungen erleichtern Pflegenden ihre Arbeit nicht.

› Als dritter Bereich sind die Rahmenbedingungen der Arbeit zu untersuchen: Sie sind auf vielen Stationen bestimmt von personeller Unterbesetzung bei zunehmender Arbeitsdichte. Aus diesen Voraussetzungen resultieren Zeitdruck und häufig ein Gefühl der Überforderung. Der Trend zur Verkürzung der Aufenthaltsdauer in den Krankenhäusern hat außerdem den Anteil der Schreibarbeiten an den Aufgaben der Pflegenden erheblich wachsen lassen. Hinzu kommen Konflikte mit Ärzten. Zudem muss die Bezahlung genannt werden, die in keinem Verhältnis zu geleisteten Arbeit steht.

Vermutlich müssen mehrere ungünstige Faktoren aufeinandertreffen, bevor sich Pflegende aggressiv oder gewalttätig gegenüber Patienten verhalten. Wir müssen uns aber im Klaren darüber sein, dass es keine Entschuldigung für derartige Vorfälle geben kann. Den aufgestauten Frust an Patienten abzulassen, ist unvereinbar mit den beruflichen Idealen der Krankenpflege und hat auch als unprofessionell zu gelten, da Professionalität die Beherrschung persönlicher Gefühle und Launen verlangt.

Macht

Man sollte annehmen können, dass Pflegende wissen, wann sie sich korrekt und wann sie sich falsch verhalten. Wenn sie wider besseres Wissen Patienten kränken und damit das berufliche Image der Pflege beschädigen, muss vermutet werden, dass es noch höhere Güter gibt als die Ideale der Mitmenschlichkeit und des Helfens. Welche Belohnung winkt für den Verstoß gegen die geltenden Verhaltensregeln? Unseres Erachtens spielt in diesem Zusammenhang das Erleben von Machtgefühlen gegenüber Hilflosen eine Rolle.

Es kann befriedigend sein, einem Unterlegenen seinen Willen aufzuzwingen. Das Erleben von Macht entschädigt für andernorts erlittene Demütigungen. Wir können uns vorstellen, dass der Genuss des Überlegenheitsgefühls in bestimmten Situationen eine höhere Anziehungskraft ausübt als die Gewissheit, sich den Normen entsprechend zu verhalten. Ein anderer wichtiger Punkt ist, dass uns Examinierte wie andere Vorgesetzte in den seltensten Fällen für qualifiziertes soziales Verhalten im Umgang mit Patienten Anerkennung zuteilwerden lassen.

Vielmehr zählen bei der Beurteilung von Leistungen vorrangig die Menge der bewältigten Arbeiten sowie die Anpassung an die verabredeten Arbeitsabläufe der Station. Auf den meisten Stationen findet überhaupt keine Kontrolle des Verhaltens statt: Kontrolle findet in anderen Bereichen statt, hier nicht! Viele Kränkungen von Patienten ereignen sich unbeobachtet. In anderen Fällen decken Kolleg/innen einander. Konsequent korrekt werden sich alle Beschäftigten des Krankenhauses verhalten, wenn Patienten oder deren nahestehende Angehörige selbst Ärzte oder Pflegende sind, sodass sie wissen, welche Behandlung sie beanspruchen können.

Wirksame Strategien zur Vermeidung von Aggressionen und Gewalt

› Einen hohen Stellenwert hat aus Schülersicht die Demokratisierung der Arbeit im Team. Wer die Chance hat, den Arbeitsprozess aktiv mitzugestalten, wird in der Regel kein Ventil für angestauten Unmut benötigen. Im Zuge der Demokratisierung könnten alte Zöpfe abgeschnitten werden: Warum muss der Frühdienst den Großteil der Arbeit des Tages schaffen? Die gesamte Organisation der pflegerischen Arbeit auf der Station sollte kritisch durchleuchtet, Dienstpläne müssten entsprechend überarbeitet werden dürfen.

› An regelmäßig stattfindenden Stationsbesprechungen sollten auch Ärzte und beteiligte Berufsgruppen teilnehmen. Während dieser Besprechungen sollte ein Austausch von Gedanken möglich sein, der diesen Namen verdient. Auch Spannungen zwischen den Berufsgruppen sollten thematisiert werden.

› Zur seelischen Bewältigung der Arbeitsbelastungen im Alltag ist darüber hinaus unseres Erachtens regelmäßige Supervision wichtig. Es reicht nicht aus, einmal während der Ausbildung oder bei späterer Gelegenheit über Gewalt in der Pflege zu reden, vielmehr ist die Reflexion des eigenen Verhaltens bei der Arbeit mit Menschen immer wieder erforderlich. Auch Fortbildungen zum Thema sollten angeboten werden.

› Patienten sollten im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt generell Gelegenheit erhalten, Behandlung und Pflege zu beurteilen und auch einzelnen Pflegenden positives wie negatives Feedback zu geben. Treten während der Betreuung eines Patienten besondere Schwierigkeiten auf, sollte die Möglichkeit bestehen, diese Betreuung an eine Kollegin oder einen Kollegen abzugeben.

› Es sollte dann aber auch reflektiert werden, warum diese besonderen Schwierigkeiten auftraten: Haben Patient und Pflegende/r möglicherweise unterschiedliche Vorstellungen gehabt von der zu erbringenden Dienstleistung? Verspürt eine Schwester oder ein Pfleger starke Abneigung gegen einen Patienten, sollte sie oder er sich bemühen, die Abneigung zu überwinden. Unser Ziel muss es stets sein, „professionell“, das heißt, ohne Ansehen der Person zu pflegen.

› Schließlich sollte sich jeder einzelne von uns herausgefordert sehen, eine individuelle Strategie zur Bewältigung negativer Gefühle im Beruf zu entwickeln. Dazu kann es sinnvoll sein, sich wieder einmal Gedanken über die Motivation zur Ausübung des Berufs zu machen oder die Suche aufzunehmen nach möglichen außerberuflichen Betätigungsfeldern zur Kompensation schwerer beruflicher Belastungen. In bestimmten Situationen kann es helfen, die Station für kurze Zeit zu verlassen oder einen Boxsack zu bearbeiten. Es erscheint uns angebracht, wirksame Schritte zur Kontrolle des eigenen Verhaltens zu unternehmen, bevor durch ungesteuertes Verhalten irreparabler Schaden entstanden ist.

Die Arbeit wurde erstellt von Yvonne F., Diana G., Lars H., Reinhard L., Valentina Salnik, Olaf S. und Stefanie S.

Anschrift für die Verfasser/innen:

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